| # taz.de -- Intendantenwechsel an der Volksbühne: Man wird ja wohl noch heulen… | |
| > Fünfundzwanzig Jahre Frank Castorf an der Berliner Volksbühne sind am | |
| > Samstagabend zu Ende gegangen – unsere Autorin vergoss ein Tränchen. | |
| Bild: Er ist dann mal weg: Frank Castorf am Abschlussabend | |
| Und dann gibt es diesen Moment bei „Baumeister Solness“, am Schluss, nach | |
| läppischen dreieinhalb Stunden (Kurzkunst für Frank Castorf), da versinkt | |
| die Kulisse im Bühnenboden, diese Puppenstube von Bert Neumann, der schon | |
| tot ist, das nachgebaute Intendantenbüro mit einer angebauten Frankfurter | |
| Küche, das fährt in den Bühnenboden hinein, wird ihm gleichgemacht und gibt | |
| den Blick frei auf das Ganze, das Nichts, auf die nackte, riesige, hell | |
| erleuchtete Weite der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die | |
| wahrscheinlich größte Bühne der Stadt. | |
| Und da laufen mir dann doch die Tränen über die Wangen, die ich so | |
| angestrengt zurückgehalten habe an diesem Samstag, dem 1. Juli 2017, dem | |
| Tag der allerallerletzten Vorstellung unter Frank Castorf, der nach 25 | |
| Jahren ebendieses Büro räumen wird, diese Bühne, dieses Haus. | |
| Ich hab so viel geheult in diesem Theater. Oft vor Lachen, besonders bei | |
| den Inszenierungen von Herbert Fritsch in den letzten Jahren. Ich habe | |
| Bahnhof verstanden bei Pollesch, fast vor Wut geweint bei Kuttner, gesummt | |
| bei Marthaler und Angst bekommen bei Schlingensief. Und ich hab mich | |
| gelangweilt bei Castorf, mein Gott, was habe ich mich gelangweilt! | |
| ## Davon geht die Welt nicht unter | |
| In den vergangenen Monaten habe ich am Ende immer geheult, bei jeder | |
| Inszenierung, bei jeder Aufführung, bei jedem Applaus. Weil sowieso immer | |
| alle geheult haben, auf der Bühne, im Publikum, ein einziges Tränenmeer. | |
| An diesem Samstag wollte ich nicht weinen, ich wollte tapfer sein. | |
| Herrgott, Lea, es ist nur ein Theater, davon geht die Welt nicht unter, | |
| danach kommt was Neues, jetzt reiß dich mal zusammen! Aber es ist eben mein | |
| Theater, meine Volksbühne, ich wohne hier. Und außerdem ist es eine | |
| Beerdigung, da werde ich ja wohl heulen dürfen. | |
| Die untergegangene Kulisse in „Baumeister Solness“ kommt übrigens noch mal | |
| hoch. Das Stück geht dann noch eine halbe Stunde. Der große, drahtige Marc | |
| Hosemann als Hermes und die kleine, stimmgewaltige Kathrin Angerer im | |
| blutroten Bodenlangen stehen oben drauf, auf dem Bühnenbild, beugen sich | |
| über die Reling und spucken auf die Bühne. Am Ende triumphieren zwei | |
| Pokémons. | |
| Der Schlussapplaus zieht sich, verständlicherweise. Nach ein paar Minuten | |
| lichten sich die Zuschauerreihen im Parkett; aber nicht, weil irgendjemand | |
| den Saal verlassen hätte, ach, i wo, nein, weil sie alle auf die Bühne | |
| rennen: all die Schauspieler, Regisseure, Bühnenarbeiter, Kartenabreißer, | |
| Pressesprecherinnen, Lichttechniker, Reinigungskräfte. | |
| Alle, die hier Theater gemacht haben, rennen auf diese Bühne, quetschen | |
| sich in die Anrichte der Frankfurter Küche, klemmen sich ins Bücherregal, | |
| stellen sich auf den Intendantensessel, applaudieren zurück, küssen sich | |
| gegenseitig, heulen, filmen mit ihren Handys, schmeißen Kuscheltiere ins | |
| Publikum, die nur heute Teil der Requisite waren, extra für diesen Moment, | |
| damit wir was mitnehmen können, nach Hause, was zum Anfassen und | |
| Reinheulen. Ich habe einen gelben Dinosaurier gefangen. | |
| Draußen im Nieselregen vor dem Säulenportal, das jetzt geschlossen ist, | |
| wird geredet, getanzt und gesoffen. Castorf warnt vor den Nazis, Lederer | |
| ist sehr ergriffen, am Ende küssen sich die beiden und die Band Der | |
| Internationale Wettbewerb spielt Rio-Reiser-Hits. | |
| „Für disch. Und imma für disch. Für imma und disch.“ Eine Kamera zeichnet | |
| auf, und ein riesiger Projektor, der an genau der Stelle steht, wo bis | |
| gestern das Räuberrad stand, wirft die Aufnahme der tanzenden Menge an das | |
| Portal zurück. Man wird ganz besoffen von so viel Symbolik! | |
| Als ich am Sonntag mein Fahrrad holen komme, ist alles aufgeräumt. | |
| Besenrein. Nur das linke Ausrufezeichen am Portal hängt noch da. Die Fahne | |
| ließ sich einfach nicht einholen. | |
| 3 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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