# taz.de -- Puppenspieler Nikolaus Habjan im Porträt: Dem Grusel mit Humor beg… | |
> Nikolaus Habjans Puppen schildern das Fortleben faschistischer Ideologien | |
> und zelebrieren gleichzeitig die Schönheit der Oper. | |
Bild: Nikolaus Habjan mit einer seiner Puppen | |
„Ich lüg dich nicht an.“ Mit diesem Satz unterbricht die Puppe, die | |
Friedrich Zawrel im Stück „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial | |
minderwertig“ verkörpert, immer wieder ihren Erzählfluss und fährt herum zu | |
ihrem [1][Puppenspieler Nikolaus Habjan.] Ein lustiger und trickreicher | |
Moment. Denn einerseits spricht die Puppe ja mit Habjans Stimme, reißt ihr | |
Klappmaul nur dank seiner Hand auf, lebt nur durch ihn. Und behauptet doch | |
andererseits einen starken eigenen Willen, tritt ihm als eigene Figur | |
gegenüber. | |
Tatsächlich ist unglaublich, was die Puppe Friedrich in diesem | |
ungewöhnlichen Stück zu erzählen hat. Friedrich Zawrel hat in Österreich | |
das nationalsozialistische Programm der Kindereuthanasie überlebt. Er | |
schildert seine Kindheit in Armut, Verfolgung und Internierung in grausamen | |
Heimen [2][und seine Fluchten] fast wie eine Schelmengeschichte. | |
Jahrzehnte später begegnete er dem Mediziner, der für die Beurteilung als | |
„minderwertig“ verantwortlich war, in einem hohen Amt im Gesundheitswesen | |
Österreichs nach 1945 wieder. Jahrelang bemühte sich Zawrel um die | |
Aufdeckung von dessen Verbrechen Tabuthema Kindereuthanasieund eine | |
Anklage. Viele Hürden wurden ihm dabei in den Weg gelegt. | |
## Tabuthema Kindereuthanasie | |
Kindereuthanasie, über dieses Thema zu reden, fällt schwer. Aber Nikolaus | |
Habjan, der mit Zawrel viele Gespräche geführt hat, und dem Regisseur Simon | |
Meusburger ist ein äußerst bewegendes Stück gelungen. Ihr Zawrel ist mit | |
einem Humor begabt, der es erleichtert, das Schreckliche an sich | |
heranzulassen. | |
Wenn Zawrel heute auf die Bühne des Deutschen Theaters in Berlin | |
zurückkehrt, ist es die 631. Vorstellung, die Habjan mit ihm spielt. „Das | |
ist, als würde ich einen Freund noch einmal besuchen“, sagt Nikolaus Habjan | |
(im Zoominterview). Als Zawrel 2015 starb, vermachte er sein Gewand der | |
Puppe. | |
Auch zwölf Jahre nach der Premiere ist die Motivation, das Stück weiter zu | |
spielen immer noch stark, wenn nicht so gar gewachsen. Hinter Habjans | |
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner mangelhaften | |
Verarbeitung steht sein Blick auf die Gegenwart und den wachsenden | |
Rechtspopulismus. „Warum läuft es so, wie es heute läuft? Lernen wir nicht | |
aus der Geschichte? Das macht mich traurig“, sagt er im Gespräch mit der | |
taz und schiebt hinterher, wie gruselig es sei, dass die „Welt verdrehten | |
Wahrheiten anheimfällt“. | |
Intendantin Iris Laufenberg, die mit ihm schon in Graz zusammengearbeitet | |
hat, hat ihn als Gast ans Deutsche Theater in Berlin geholt. Dort spielt er | |
auch [3][„Böhm“, ein Porträt des Dirigenten als grantelnden Diktator im | |
Orchestergraben und politischen Opportunisten der NS-Zeit] mit gepflegten | |
Erinnerungslücken im Alter. „Wenn das Politische auf sie zukommt, schauen | |
sie auf die Noten“, ist seine Strategie, Verantwortung zu vermeiden. Und | |
doch hat man Mitgefühl mit der Puppe, ihrem faltigen Gesicht, ihrem | |
hilfsbedürftigen Körper, ihrer Flucht in die Musik. | |
## Nur ein Gesichtsausdruck | |
Habjans Puppen sind Klappmaulpuppen, der Kopf sehr groß, der Mund sehr | |
breit, eine Hand sehr bewegt, der Rest des Körpers oft diffus. Man erlebt | |
sie traurig, listig, leidend, triumphierend und kann es kaum glauben, das | |
ihr Puppengesicht eigentlich nur einen Ausdruck hat, der sich aber mit der | |
Stimme, den Bewegungen des Spielenden ständig zu verändern scheint. | |
Diese Theatermagie, denkt Habjan, macht Puppenspiel zur „Königsdisziplin | |
der Behauptung“. Natürlich ist hier alles Illusion. Aber die Zuschauer sind | |
mehr gefordert und beteiligt als bei anderen Theaterformen, Hirne und | |
Vorstellungskraft ersetzen ständig, was fehlt. Mit dem Publikum zusammen | |
erschafft der Spieler die Figuren. Deshalb wird man auch seelisch von ihnen | |
so leicht angefasst. | |
Nikolaus Habjan baut seine Puppen selbst. Er liebt es, wenn das Material | |
schon ein „wenig Ranz hat“, Spuren des Benutzten und Verlebten. Dass der | |
Spieler nichts ist ohne Puppe und die Puppe nichts ohne ihn: Aus diesem | |
gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis schlägt er nicht nur in seinen | |
Stücken Funken, sondern auch ein Stück Theaterphilosophie. Verlässt der | |
Spieler die Puppe, bleibt nur tote Materie. Leben und Tod wohnen deshalb | |
schon bildlich und fühlbar nebeneinander im Puppenspiel. | |
## Doppelte Rollenbesetzung | |
Das nutzt Nikolaus Habjan auch in seinem zweiten beruflichen Leben, als | |
Regisseur von Opern: Er hat an der Semperpober Dresden „Orfeo“ inszeniert, | |
in Dortmund und in Cleveland Mozarts „Zauberflöte“, in Bern Händels | |
„Alcina“ und in Basel den „Barbier von Sevilla“. Diese Produktion mit e… | |
Kammerensemble junger Musiker von der Hochschule der Musik und mit jungen | |
Sängern lässt auch in einer Videoaufzeichnung nachvollziehen, welches | |
Potenzial in der doppelten Rollenbesetzung mit einer Puppe und einem/einer | |
Sänger:in besteht. | |
Einerseits verweisen die Puppen in liebevollen Karikaturen ihrer Figuren | |
auf die Historizität der Oper, das Altern des Stoffes, den Abstand zur | |
Gegenwart. Der Gestus aber dann, den sie von den Sänger:innen selbst und | |
weiteren Mitspielern geführt entfalten, erzählt vom Feuer der | |
Künstler:innen, von der Aufregung des Auftritts, von der Freude an der | |
Bravour, vom Stolz auf die Virtuosität, von der Dankbarkeit über den | |
Erfolg. So wird die Oper transparent, um die Verfasstheit derer zu | |
skizzieren, die ihr ihre Leidenschaft widmen. | |
## Jelineks Doppelgängerin | |
Nikolaus Habjan hat auch eine spezielle Verbindung zur österreichischen | |
[4][Autorin und (Nobelpreisträgerin) Elfriede Jelinek.] Sie, die für ihre | |
[5][Kritik an Autoritätshörigkeit], an Opportunismus und Fremdenhass, an | |
politischen Skandalen und Willkür, nicht nur in Österreich oft beschimpft | |
und verletzend beleidigt wurde, scheut den öffentlichen Auftritt. | |
Für die Rolle der Elfriede in ihrem Stück „SCHATTEN (Eurydike sagt)“ am | |
Akademietheater in Wien 2013 schuf er eine Puppe der Schriftstellerin. Die | |
ist seitdem ihr offizielles Double, spricht teilweise auch mit ihrer Stimme | |
und holt für sie zum Beispiel Auszeichnungen bei Preisverleihungen ab. | |
Den australischen [6][Puppenspieler Neville Trante]r sieht Nikolaus Habjan | |
als seinen Mentor. Habjan, 1987 in Graz geboren, erlebte dessen Spiel mit | |
den Klappmaulpuppen, als er noch ein zwölfjähriger Junge war. Aber wenn er | |
davon redet, klingt es so, als hätte er ab da an gewusst, was er machen | |
will. Die Puppe erlaubt mit Charakteren zu spielen, die man eins zu eins | |
nicht auf die Bühne bringen möchte. | |
In der Spannung zwischen Spieler und Figur ist aber die Möglichkeit des | |
Bruchs, des Zweifelns, des Kommentars angelegt. Und das hat Tranter genutzt | |
in seinem legendären Stück „Schicklgruber“, das von Hitlers Geburtstag am | |
20. April 1945 in einem verdreckten Berliner Bunker erzählt. | |
Die Rote Armee hat die Reichshauptstadt eingeschlossen, alles droht | |
zusammenzubrechen, doch die von Hitler Auserwählten lassen sich ihren | |
Feierwillen nicht verderben. Neville Tranter (1955 geboren) zieht sich von | |
der Bühne zurück, aber das Stück hat er an Nikolaus Habjan übergeben, der | |
es im Mai 2025 am Deutschen Theater zur Premiere bringen wird. | |
12 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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