# taz.de -- Theater über Rechtsruck in Österreich: Bobos versus Bauern | |
> Das Schauspielhaus Graz bringt ein Stück von Thomas Köck auf die Bühne. | |
> Es beleuchtet, wie das Rechtsextreme in Österreich in der Mitte ankam. | |
Bild: Das sechsköpfige Ensemble in „Chronik der laufenden Entgleisungen“ a… | |
Jetzt ist schon wieder was passiert – wird es wohl in einer Woche tönen, | |
wenn die Nationalratswahl in Österreich (29. September) vorbei ist. Wenn | |
die (Rechts-)Konservativen am rechten Rand gefischt und dort trotzdem | |
nichts gefangen haben, weil die Rechtsextremen eh längst in der Mitte | |
angekommen sind. „Was schließlich passierte, war allen bekannt“, heißt es | |
in „Chronik der laufenden Entgleisungen“ gegen Ende. Auf knapp 350 Seiten | |
begleitet der [1][Dramatiker Thomas Köck] das vergangene Jahr und | |
kommentiert das österreichische Politgeschehen. | |
Nicht als „knallharte Analyse“ ist Köcks Text konzipiert, viel mehr „eine | |
Art Außenbetrachtung der Innenbetrachtung der Außenbetrachtung der inneren | |
Verhältnisse eines Landes“ soll er sein. Und als eben diese Betrachtung der | |
Betrachtung der Betrachtung inszeniert ihn Marie Bues mit ihrem Team am | |
Grazer Schauspielhaus. | |
Dieses hatte, gemeinsam mit dem Schauspielhaus Wien, den Text in Auftrag | |
gegeben, in Kooperation mit dem steirischen herbst, dessen Motto „Horror | |
Patriae“ (eine Mischung aus amor patriae, der Liebe zum Vaterland, und | |
horror vacui, der Angst vor der Leere) auch ein guter Titel für Köcks | |
Beobachtungen gewesen wären. | |
Denn ein Horror ist das, was in diesem Land passiert, zweifelsohne, | |
zumindest für die, die es betrifft, der Rest hat weiterhin eine Mordsgaudi, | |
nimmt „Hatespeech zur Kenntnis wie einen Wetterbericht“ und wird hinterher | |
wieder von nichts gewusst haben. [2][Dabei war „Österreich schon immer | |
Nazi-Avantgarde]“. So steht es in Köcks „Chronik“, die erst kürzlich bei | |
Suhrkamp erschien. So formuliert es auch eine*r der sechs Darstellenden im | |
rot-weiß-roten Trainingsanzug – von Adidas, wohlgemerkt (Kostüm: Amit | |
Epstein). | |
## Balkan, Benko und Rechtspopulismus | |
Anfangs sitzen diese sechs Namenlosen – großartig dargestellt von Karola | |
Niederhuber, Otiti Engelhardt, Mervan Ürkmez, Tala Al-Deen, Kaspar Locher | |
und Sophia Löffler – noch eingepfercht in einem mit Gaze-Stoff verhängten | |
Kubus, bedruckt mit dem Gemälde irgendeines „Entdeckers“. Nach und nach | |
erst befreien sie sich aus dem Würfel, erobern die restliche Bühne und | |
bespielen sie mit vollem Körpereinsatz, unter Zittern, Hüpfen und Tanzen. | |
Die Einheit, die diese sechs Körper dabei zuweilen bilden, ist schön | |
anzusehen, beruhigt das Auge, wo das Gehör die Information gerade noch | |
verarbeiten muss. | |
Da ist von gestohlenen Kunstobjekten vom Balkan die Rede, von | |
Bank-Austria-Filialen entlang der ehemaligen k.u.k-Ländergrenzen, von | |
Sebastian Kurz [3][und René Benko], von Geheimtreffen Rechtsextremer beim | |
großen, ewig neidisch beäugten Nachbarn, von Angriffen auf jüdische | |
Institutionen ausgerechnet im November und von einem Jörg Haider, dessen | |
Lebensmotto „Österreich zuerst“ dem Rechtspopulismus in Europa den Weg | |
ebnete. | |
Musikalisch untermalt wird der Abend erst zögerlich, dann immer gewaltiger | |
von der Multimediakünstlerin Lila-Zoé Krauß, die als Endzeit-DJ im hinteren | |
Teil der Bühne steht. Immer wieder läuft eine*r der Darstellenden mit | |
einer Kamera umher, filmt die Mitspielenden, dann das Publikum, das sich im | |
plötzlich hell werdenden Zuschauendenraum so nicht mehr entziehen und | |
zurücklehnen kann. Ein guter Kniff, dem es noch an etwas Ruhe fehlt, das | |
Aushalten eines unangenehmen Moments. | |
Gespickt ist Köcks Text zwischendrin mit Persönlichem, wie man es heute | |
gerne hat, teils um sich identifizieren zu können, teils um ein System zu | |
erkennen, das es vor allem denjenigen leichter macht, die es partout | |
negieren. „Arbeiter:innen gibt es nämlich keine mehr“, heißt es an einer | |
Stelle. | |
## „Boboblase“ versus „Bauernhöfe“ | |
Denn das ginge ja einer Logik zuwider, in der jede*r alles erreichen kann, | |
in der es keine Klassen mehr gibt, „außer man muss wieder erklären, woher | |
der Rechtsruck kommt, dann gibt es sie plötzlich wieder, als monströse | |
Form, als enttäuschte Massen, als ‚abgehängte‘ Arbeiter:innen“. | |
1986 als sogenanntes Arbeiterkind in Oberösterreich geboren, kennt Köck | |
dieses Milieu, weiß auch um die Schwierigkeiten, ihm zu entkommen, um die | |
Codes, die es zu lernen gilt, um anderswo „dazuzugehören“. „Boboblase“ | |
versus „Bauernhöfe“, Köck kennt beides und fühlt sich doch keinem mehr | |
zugehörig. | |
„Es ist die Gegend neben der Überlandstraße, in der die Fernseher dröhnen, | |
in der die Magengegend den Ton angibt“, beschreibt er den Teil Österreichs, | |
in dem er aufwuchs und [4][in der die rechtsextreme FPÖ] längst fest | |
etabliert ist mit ihrem „herbertkomplex“. | |
Dass sich dieser gegen eine marginalisierte Gruppe wendet, ist auch nichts | |
Neues: Waren es beim Adolf „die Juden“, sind es beim Herbert nun „die | |
Ausländer“. Letzteres leitet Köck her, macht einen Ausflug in die | |
europäische Entwicklung des Neoliberalismus durch Friedrich von Hayek. | |
## Salonseminar zur Rechtsgeschichte | |
All das ist interessant, bleibt in zwei Stunden aber fragmentarisch, sodass | |
man gut daran tut, vorab einen Blick in Köcks Buch zu wagen. Interessant | |
ist auch das vom Grazer Schauspielhaus als Reihe konzipierte Salonseminar | |
vor Vorstellungsbeginn. | |
Unter dem Titel „Verfassung schützt vor Diktatur nicht!“ zeigt Bernhard | |
Gollob von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz auf, | |
wie ein Aushebeln der damaligen Verfassung es den Faschisten ermöglichte, | |
in Österreich zu schalten und zu walten. Was mit Krisen wie einer Pandemie | |
und einer Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg begann, führte zu | |
Radikalisierung sowie zur Delegitimierung und Destabilisierung der | |
Demokratie, deren Verfassung nutzlos wurde. | |
Schon nach diesem Ausflug in die Rechtsgeschichte brummt einem der Kopf, | |
hört auch nicht auf zu brummen während der Vorstellung, so unaufhaltsam | |
wirkt all das. Bis man sich wieder besinnt und erkennt, dass man ja (noch!) | |
ein demokratisches Mittel hat, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen: eine | |
Wahl. | |
23 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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