# taz.de -- Neue Intendanz am Burgtheater: Hamlet und Muybridges Pferde | |
> Stefan Bachmann setzt am Burgtheater auf Neuinterpretationen im Kanon, | |
> Kay Voges. Sein Nachfolger in Köln, auf die Erweiterung des | |
> Theaterbegriffs. | |
Bild: Das Burgtheater in Wien: noch immer die größte deutschsprachige Bühne … | |
Man darf jetzt wieder „Burg“ zum Burgtheater sagen. [1][Der neue Direktor, | |
Stefan Bachmann], hat es ausdrücklich erlaubt. Unter Sprecher:innen im | |
gehobenen Wiener Bildungsbürgertum signalisiert das nonchalante Kürzel den | |
Anspruch, sich auszukennen – unabhängig von tatsächlicher Kompetenz | |
dazuzugehören und für das Theater relevante Haltungen zu vertreten. | |
Bachmanns Vorgänger, Martin Kušej, war die blasierte Redeweise der feinen | |
Leute über das Theater lange ein Ärgernis. | |
Der Neubeginn an der Burg stellt zwei gegenläufige Anforderungen an Stefan | |
Bachmann: Der neue Burgtheaterdirektor soll das Haus konsolidieren und | |
zugleich Aufbruchstimmung verbreiten. Diesen Spagat hat der Schweizer, der | |
elf Jahre lang das Schauspiel Köln leitete, in einer Charmeoffensive in den | |
Wiener Medien fürs erste gemeistert. | |
Dabei ist der Neue hier gar nicht so neu. Zwischen 2005 bis 2009 | |
inszenierte er schon an der Burg. Ihn und wichtige Mitstreiter im Team wie | |
den [2][Chefdramaturgen Thomas Jonigk] kennt man aus den 1990er Jahren im | |
kleineren, damals aber einflussreichen Wiener Schauspielhaus. | |
## Jelineks Heimholung | |
Sein Spielplan setzt auf bewährte Positionen des literarischen Kanons, | |
verspricht aber, sie als „Klassiker heute“ in zeitgenössischer Betrachtung | |
gegenzulesen. „Elisabeth!“ der [3][Salzburger Autorin Mareike Fallwickl] | |
setzt mit Stefanie Reinsperger am großen Haus eine Art feministische | |
Signature-Position. Im Frühjahr schließt eine Heimholung die Saison ab. | |
Elfriede Jelineks „Burgtheater“, eine Satire über die Mittäterschaft der | |
Wiener Schauspielerfamilie Hörbinger/Wessely im Propagandaapparat des | |
Nationalsozialismus und ihren Ruhm in der Nachkriegsrestauration, kommt | |
vierzig Jahre nach der Bonner Uraufführung in Zusammenarbeit mit Milo Rau | |
und den Wiener Festwochen nun doch ans Burgtheater. | |
Eröffnet hat Bachmann die Saison mit dem Stoff der Stoffe: „Hamlet“. Dabei | |
gaben die Dänenprinzen dieses Jahr in Wien einander die Türklinke in die | |
Hand, bei den Festwochen oder beim Impulstanz Festival. Fünf | |
„Hamlet“-Darsteller:innen künden in der Inszenierung von Karin Henkel unter | |
den betörenden Farben von Katrin Bracks Bühnenwolkenhimmel von ihrem Leiden | |
im ödipalen Kleinfamiliendreieck. Zeitgenossenschaft gerät hier zum | |
Kurzschluss mit dem Alltagsbewusstsein der Mittelschicht. | |
Über Wirklichkeit und Zeichencharakter des Theaters könnte die | |
Schauspielerszene in „Hamlet“ selbst Auskunft geben. Was Michael Maertens | |
im beiläufigen Moderationston setzt, bleibt mit oder trotz vieler Hacker | |
gegen postdramatische Theoriebildung nur selbstreferenziell. Es offenbart | |
das Elend der Ironie. Was einst der feine Stachel gegen die | |
Selbstverständlichkeit des Bestehenden war, wird zur Vollkaskoversicherung | |
des Bescheidwissens gegen alle Krisen, Ein- und Widersprüche. | |
## Feinde in der Stadt | |
Karin Henkel zergliedert den Stoff über zweieinhalb Stunden in ein durchaus | |
attraktives Ratespiel. Wer öfter mal im Theater war oder „Hamlet“ in der | |
Schule hatte, kennt sich aus und freut sich. Das ist eine Strategie, links | |
zu blinken und rechts abzubiegen. Was auf der formalen Ebene steil wirkt, | |
adressiert und stabilisiert per Dog Whistle das angestammte Publikum in der | |
eigenen Blase. | |
Auch „Orlando“, eine Überschreibung des Romans von Virginia Woolf am | |
Akademietheater, betreibt die uniforme Multiplikation ihrer Hauptfigur mit | |
sieben Schauspieler:innen in Schwarz. Die Frage nach dem verwirrenden | |
Changieren zwischen der Zuschreibung von männlichen und weiblichen | |
Identitäten beginnt wort- und anspielungsreich auf einer leeren Bühne vor | |
einem weißen Plastikvorhang, die sich nach und nach mit Requisiten und | |
Fundusteilen einer wilden Maskerade füllt. Warum fällt Theatern beim Thema | |
Genderfluidität eigentlich immer nur Trash mit Oma-BHs und Reifröcken ein? | |
Im Feuerwerk des Neuanfangs an der Burg ist mit „Bullet Time“ von Alexander | |
Kerlin ein brillanter wie unverhoffter Abend am Wiener Volkstheater ein | |
wenig unter dem Radar der lokalen Kritik hindurchgeflogen. Intendant Kay | |
Voges hat das Haus nach anfänglichen Schwierigkeiten zu einem spannenden | |
Ort gemacht und sich selbst eine ansehnliche Reihe von Feinden in der | |
Stadt, denen das Volkstheater nun nicht mehr volkstümlich genug ist. | |
Jetzt, wo der Laden richtig gut läuft, befördert ihn der Lauf der Dinge im | |
kommenden Jahr als Nachnachfolger von Stefan Bachmann in eine etwas | |
ungewisse Zukunft am Schauspiel Köln. | |
## Wien, das Theater und die Außenwelt | |
In Wien, wo im Theater nicht immer alles synchron mit der Außenwelt läuft, | |
entsteht so eine interessante Zeitschleife, in der sich Vorgänger und | |
Nachfolger für ein Jahr auf engstem Raum, begegnen. | |
Bemerkenswert an dieser Anordnung sind nicht nur die widerstreitenden | |
ästhetische Konzepte, sondern die jeweiligen Strategien zur Bewirtschaftung | |
der knappen Ressource Publikum. Die Reformulierung des Kanons an der Burg | |
zielt bei allen Bekenntnissen zur Erschließung neuer Publikumsschichten auf | |
die Stabilisierung des Kernbestands. | |
Voges ist dem Rat des konservativen Feuilletons in der Coronakrise, er | |
müsse nur wieder „richtige Stücke“ spielen, dann kämen die Leute schon | |
wieder, nicht gefolgt. Er versuchte jene Kulturinteressierten in der Stadt | |
zu erreichen, die zwar ins Kino, in Ausstellungen, Konzerte oder zum | |
zeitgenössischen Tanz gehen, mit dem „Theater, wie es bislang war, | |
zwischenzeitlich abgeschlossen hatten“. | |
Ein Asset des Volkstheaters ist die Welthaltigkeit seiner | |
Dokumentarformate, die aus der Zusammenarbeit mit journalistischen | |
Recherchen entstanden sind, [4][mit Correctiv etwa über den rechtsextremen | |
Geheimplan zur „Remigration“] oder der „Aufstieg und Fall des Herrn Réne | |
Benko“ mit der österreichischen Plattform Dossier. | |
## Welterfahrung im Theater | |
Auf den Brettern, die auch ihm die Welt bedeuten, will Voges auch „die | |
Komplexität gegenwärtiger Welterfahrung“ wiederfinden. In seiner | |
Inszenierung von „Bullet Time“ klappt das ganz gut. Sein Dramaturg | |
Alexander Kerlin hat mit dem Stück über den Photografen, genialen Erfinder | |
und Mörder des Geliebten seiner Frau, Eadweard Muybridge, nicht weniger als | |
einen „Faust“-Mythos der Neuzeit geschrieben. | |
Das Genie „verkauft“ seine Seele für den wissenschaftlichen Fortschritt an | |
den skrupellosen Investor und Politiker Leland Stanford im kalifornischen | |
Paolo Alto. Alles Namen, die bis in die Gegenwart für die Umwälzung von | |
Kultur durch Technologie stehen. | |
Muybridge entwickelt als Vorläufer des Kinematografen eine | |
Hochgeschwindigkeitstechnik in der Fotografie, die erstmals die Bewegung | |
des Pferdes im Galopp darstellbar macht. Maschinengetriebene | |
Geschwindigkeit und die technische Reproduzierbarkeit des Bildes verändern | |
bis heute Wahrnehmung und kulturelle Praxis. | |
Das Publikum teilt sich in Begeisterung und Ratlosigkeit. Die Reflexion | |
seiner erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ist im Theater noch eine | |
junge Disziplin. | |
22 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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