| # taz.de -- Neuer Intendant am Schauspiel Köln: Der Apokalypse entgegenschwank… | |
| > Mit „Imagine“, einem ästhetisch grandiosen Weltenwimmelbild aus Rausch | |
| > und Abgrun d, eröffnet Kay Voges seine Schauspielintendanz in Köln. | |
| Bild: Alltag und Unheil, Banalität und Böses wechseln sich in den Szenen ab | |
| Der Song „Imagine“ von [1][John Lennon und Yoko Ono] besingt eine vereinte | |
| Welt ohne Staaten, Grenzen und Religionen und wird bei so ziemlich jeder | |
| vorstellbaren Gedenkveranstaltung gesungen: eine Friedenshymne, die zum | |
| Schlager geworden ist. Das Kraftvolle daran ist vermutlich, dass sie zu | |
| Visionen, zu welchen auch immer, aufruft. | |
| Auch Kay Voges hat den Eröffnungsabend seiner neuen Schauspielintendanz in | |
| Köln „Imagine“ genannt. Gesprochen wird hier kein einziges Wort. Ein ganzes | |
| Dorf steht da auf der Bühne, mit Holzhäuschen, Straßenlaternen und einer | |
| Kirche, aus der es warm von innen leuchtet. Zwei riesige Bildschirme hängen | |
| darüber, um farbverstärkt die verborgenen Ecken des pittoresken | |
| Städtchens zu zeigen. Stoisch gleitet eine Roboterkamera auf Schienen | |
| rundherum, verändert nie die Geschwindigkeit, öffnet immer wieder die | |
| gleichen Bühnenräume – ein ewiger Kreislauf. Dreimal scheint hier ein neuer | |
| Tag zu den hymnisch-wehmütigen Klängen von The Cures Song „Alone“ zu | |
| beginnen. | |
| Einsamkeit, Entfremdung, eine unbestimmte Bedrohung sprechen auch aus den | |
| betörend schönen Szenenbildern (Pia Maria Mackert), die von Künstlern wie | |
| Edward Hopper oder Gregory Crewdson inspiriert scheinen. Immer beginnt der | |
| Tag im gleichen düsteren Zimmer mit Mustertapete und Doppelbett. Eine Frau | |
| geht zur Arbeit. Ein Mann sitzt auf dem Bett mit irrem Blick, mit Messer | |
| und in Schlachterschürze. Eine Frau befühlt ihre Brüste und weint. Zwei | |
| Männer haben gerade Sex gehabt, der eine bezahlt den anderen. Ein Mann | |
| wiegt ein Baby, ein anderer fällt auf dem Gehweg tot um – doch niemand | |
| hilft ihm, bedeckt ihn nur mit einer Plastikplane. Immer wieder finden sich | |
| aber auch Gruppen zusammen, treffen sich in der Kirche, singen ergriffen | |
| Leonard Cohens hymnischen Song „Who by Fire“. | |
| Eine genau getaktete Choreografie lässt immer neue Miniszenen entstehen, | |
| die sich nur im Kopf des Zuschauers zu einer Geschichte zusammensetzen. | |
| Oder eben nicht. Wer schreibt welche Geschichte, ist von welchem Schicksal | |
| getroffen, und wer entscheidet das? Alltag und Unheil, Banalität und Böses | |
| wechseln sich in den Szenen ab und erzählen zugleich immer von rastloser | |
| menschlicher Sinnsuche, Verzweiflung oder Glück. Am zweiten Tag ersteht der | |
| Tote wieder auf, wird als halb nackte Jesusfigur mit Blumenkranz in der | |
| Kirche gefeiert. Bis das Ganze zur absurden Orgie wird. Zu Beats von | |
| Stromae tanzen sie dann eine ekstatische Choreografie: Im Rausch wird alles | |
| eins, der Mensch will vergessen, während auf den Bildschirmen Störungen | |
| erscheinen, KI-generierte Verfremdungen, Gruselbilder. | |
| Und dann kippt es bei der dritten Tageswiederholung ins vollends | |
| Dystopische, sieht die Frau im Büro aus wie eine Lageraufseherin, zückt ein | |
| Mann die Kreissäge, wird gefoltert, geblutet, zombiehaft zu grell zuckenden | |
| Lichtern und Klängen getanzt. Immer martialischer werden die Waffen, wächst | |
| die Gewalt. Bis am Ende ein altes Disney-Schneewittchen „Imagine“ anstimmt, | |
| den großen Utopieschlager. Sie isst dazu einen Apfel – der vorher wie ein | |
| Leitmotiv durch die Szenen geisterte, als Apfelsaft-Tetrapak oder Apfelmus: | |
| der Ursprung der Erkenntnis, Abgrund und Heilung zugleich. | |
| Am Ende des opulenten Bildersturms von [2][Kay Voges] scheint als Fazit mal | |
| wieder übrigzubleiben, wie der Mensch in Dummheit und Destruktion der | |
| Apokalypse entgegenschwankt. Ein großes Weltenwimmelbild liefert er da ab, | |
| einen Menschheitsentwurf, der von Rausch und Abgrund, von KI und Popkultur | |
| erzählt: Die oft überraschenden, unheimlichen, surrealen Bilder setzt sich | |
| der Zuschauer selbst zur Geschichte zusammen, kann im Kopf sein eigenes | |
| Universum kreieren. „Imagine“ eben. | |
| Vom Stil her erinnert das stark an Voges’ „Borderline Prozession“, mit der | |
| er einst zum Berliner Theatertreffen eingeladen und in Theaterkreisen | |
| berühmt wurde, nur eben ohne Textschnipsel. Ein ästhetisch grandioses | |
| Unterfangen ist das. Beeindruckend auch, mit welcher Perfektion und | |
| präzisen Schönheit das neue Ensemble agiert: Ganze 19 Schauspieler stellen | |
| sich hier in Großaufnahmen dem Kölner Publikum vor, müssen jede Geste | |
| präzise timen. Und doch wirkt der Abend am Ende irgendwie banal, fast | |
| musicalhaft in seinem ganzen Riesenaufwand. Letztlich ist das, was hier | |
| „Welttheater“ genannt wird, doch nur eine weitere dystopische | |
| Bestandsaufnahme im daran nicht armen Kulturbetrieb. | |
| Allerdings kann man sicher sein: [3][Kay Voges] hat noch andere | |
| Kunst-Erzählungen auf Lager – etwa mit seinem spannenden neuen Schwerpunkt | |
| „Theater und Journalismus“, der engen Zusammenarbeit mit der | |
| Correctiv-Redaktion. Und so will man ihm einfach viel Erfolg wünschen zum | |
| Auftakt der neuen Intendanz. | |
| 29 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dorothea Marcus | |
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