# taz.de -- Volksbühne in Berlin: Wie eine Lupe auf das menschliche Tun | |
> Das Theaterduo Vinge/Müller eröffnet mit acht Stunden von Ibsens „Peer | |
> Gynt“ die Spielzeit der Berliner Volksbühne. Und das ist nur der erste | |
> Akt. | |
Bild: Die Möglichkeit eines Gewaltexzesses liegt konstant in der Luft | |
Anders als bei einem neuen Blockbuster bleibt es vor einer Theaterpremiere | |
meistens bis zum Schluss spannend. Kein Trailer verrät: Wie sieht das | |
Setting aus? Wie die Kostüme? Und vor allem: Wie lange dauert es? Doch die | |
Suspense-Meisterschaft dürfte das norwegisch-deutsche Theaterduo | |
Vinge/Müller gewinnen. Einmal ließen [1][Vegard Vinge und Ida Müller] ihr | |
Publikum gar nicht erst in den Saal: Wer etwas erleben wollte, musste | |
wiederkommen. | |
Ein andermal eröffneten sie eine temporäre Spielstätte in | |
Berlin-Reinickendorf, in der kein Aufführungstag dem anderen glich. Nach | |
Polleschs Tod hieß es dann plötzlich: Vinge und Müller sollten die | |
Volksbühne übernehmen. Das gefiel nicht allen, manch eine*r befürchtete | |
gar eine Demontage des geschichtsträchtigen Hauses. Aber dann wurden die | |
Kulturkürzungen publik und [2][mit ihnen der Rückzug des Duos]. Als der | |
volksbühnenerfahrene [3][Matthias Lilienthal die vakante Intendantenstelle] | |
annahm, ab 2026, atmete man erleichtert auf in Berliner Kulturkreisen. | |
Dennoch sind es Vinge und Müller, die die neue Spielzeit eröffnen, die | |
letzte im Interim. Und zwar mit „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen, der so etwas | |
wie der Urvater ihres comichaften Totalkunst-Universums ist. Am | |
Premierentag findet man auf der Homepage der Volksbühne zwar immer noch | |
keine Infos zum Stück, dafür ein Video mit einem Strichmännchen, das | |
schreiend zur Tür hinausläuft und an der Nabelschnur wieder hineingezogen | |
wird. Uff. | |
Die Aufführung wird so lange gehen, bis der Arbeitsschutz greift, erfährt | |
man am Pressestand. Das sind dann immerhin nur 8 und nicht 48 Stunden, wie | |
Vinge und Müller es eigentlich gerne gehabt hätten – so wird es zumindest | |
kolportiert. Wenigstens darf man zwischendurch rausgehen und Getränke und | |
Snacks mit in den Saal nehmen. Die erste Reizüberflutung gibt es im Foyer. | |
## Es wird Stimmung gemacht | |
Dort hängen Ida Müllers riesige knallbunte Wimmelbilder. Eine popkulturelle | |
Referenz reiht sich an die nächste: Profifußballer, Pornostars, | |
Schokoriegel, abgeschnittene Gliedmaßen. Nicht weniger überfordernd der | |
Theatersaal. | |
Dort macht Vegard Vinge nämlich schon mal Stimmung. Wie alle Figuren im | |
Vinge/Müller-Universum steckt er hinter einer karikaturhaften Maske. Seine | |
hat rote abstehende Ohren und Pausbacken, was ihm ein kindliches Aussehen | |
verleiht. Und infantil benimmt sich die Figur auch: Vinge mimt den | |
Künstlergockel, der sich durch einen Wust aus Gemälden wühlt. „Carl ist | |
tot“ jammert er, womit der kürzlich [4][verstorbene Dramaturg Carl | |
Hegemann] gemeint sein dürfte. | |
Wenig später sieht man Vinge per Liveübertragung durch die Gänge hetzen, | |
nur um kurz darauf hinter dem Technikpult Stunk zu machen. Neugier liegt in | |
der Luft, aber auch Adrenalin, weil man sich nie sicher sein kann, was sich | |
dieser Bully als Nächstes ausdenkt. Immerhin hat man gelesen, dass Vinge | |
vor vielen Jahren mal einen Feuerlöscher ins Publikum gehalten haben soll. | |
Doch erst mal wird es ruhig, fast schon gespenstisch. Aufnahmen von | |
strömendem Regen werden gezeigt, ein Kameraschwenk Richtung Fenster, hinter | |
dem ein Teenager mit Burger-King-Cappy steht. Er hat dasselbe | |
kindlich-aufgedunsene Gesicht wie Vinges Figur. Hinter ihm ein Plakat mit | |
Sylvester Stallone, ein Plattenspieler aus Pappe spielt Madonna. | |
## Für das Bühnebild gab es schon Preise | |
Ida Müller hat für ihre aufwendigen Kulissen gerade erst den | |
Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis erhalten – und tatsächlich kann man sich an | |
ihren detailliert bemalten Attrappen kaum satt sehen. Links ein Späti mit | |
Obstkisten, rechts eine Kneipe im schummrigen Licht und in der Mitte der | |
piefige Klinkerbau, in dem Peer Gynt mit seiner Mutter haust, den Grabstein | |
des verstorbenen Vaters direkt vor der Tür. | |
Peer Gynt ist ein Jugendlicher, der aus seinem Umfeld ausbrechen will. Er | |
will so vieles: eine schöne Freundin haben, berühmt werden, Geld. Um die | |
Realität zu ertragen, erfindet er Lügengeschichten, lebt in seiner eigenen | |
Welt. Assoziationen von abgehängten Teenagern werden wach, von Incels und | |
Amokläufern. | |
Der Junge, die Mutter, das restliche Bühnenpersonal: Sie alle klingen wie | |
kaputtgegangen. Wenn sie etwas sagen, stottern sie, quietschen, grunzen. | |
Aus Ibsens Originaltext benutzen Vinge/Müller vor allem Schlüsselsätze, die | |
von ihren Figuren dann aber so oft wiederholt werden, dass man in aller | |
Ruhe rausgehen, nochmal durch die Ausstellung laufen und sich ein Bier | |
holen kann – und trotzdem kaum etwas verpasst hat. | |
Die entschleunigte Spielweise, und sie ist wirklich extrem langsam und | |
repetitiv, wirkt in den besseren Momenten wie eine Lupe auf das menschliche | |
Tun und passt auch gut: Etwa als Peer Gynts Schwarm minutenlang ihren Namen | |
trällert und die Welt damit praktisch stehen bleibt. | |
## Der Mensch als Ergebnis seiner Sozialisation | |
Aber sie führt eben auch dazu, dass jede Handgreiflichkeit im Gewaltexzess | |
endet. Keine Frage: Die Handlung ist auch bei Ibsen brutal, aber manche | |
Szene ist selbst für hartgesottene Theatergäste schwer aushaltbar. Jeder | |
Angriff wird bis an die Belastungsgrenze gesteigert: von mütterlichen | |
Schlägen, wo das Blut nur so spritzt, über Polizeigewalt bis zu einer | |
Vergewaltigung. Bei Ibsen gibt es keine Held*innen. Alle Figuren sind Täter | |
und Opfer zugleich. | |
Wie im echten Leben ist der Mensch das Resultat seiner Umgebung – wenn auch | |
deutlich zugespitzt. In einer der Splatterszenen versucht sich Peer Gynt, | |
der zwischen toxischer Männlichkeit und jugendlicher Verunsicherung hin und | |
her schwankt, seinen Penis abzuschneiden. Als ihm das mit dem Messer nicht | |
gelingen will, probiert er es auf allerhand anderen Wegen. Das wird | |
irgendwann so absurd, dass viele dann doch lachen müssen. | |
Während der kleine Peer auf der Bühne vom großen Geld träumt, machen die | |
Schönen und Reichen „Big Business“ oder führen Gespräche, bei denen | |
wortwörtlich nichts herauskommt als: „Blabla“. Das ist stellenweise | |
unterhaltsam, dann wird es wieder unterkomplex. Etwa als ein Haufen Geld | |
vom Kultur- in den Pharmabeutel wandert und jemand vielsagend einen | |
Pfizer-Aufkleber auf ein Röhrchen klebt. | |
Ähnlich unnötig sind die Exkurse in andere Sozialdramen: Ein Ausschnitt aus | |
Fassbinders „Angst essen Seele auf“ gerät zum Sozialkitsch, der in wilder | |
Vögelei endet. Und dann ist da noch Vinges angebliche Fehde mit der | |
Bühnentechnik. Immer wieder unterbricht er die Handlung, provoziert und ist | |
dann wieder weg. Einmal macht er seinen berühmten Lieblingsgag und pinkelt | |
sich im Liegen in den Mund. | |
## Der Abend zieht sich in die Länge | |
Ob es mit dem Haus wegen solcher Aktionen vorher wirklich Stress gegeben | |
hat, wie er fortwährend suggeriert, bleibt unklar. So oder so wirken seine | |
Sticheleien etwas kalkuliert und schnöselig, immerhin machen ja alle | |
Gewerke tapfer mit. Nach den ersten drei Stunden sind die meisten | |
Zuschauer*innen noch dabei, ab Stunde vier leeren sich die Reihen und | |
manch einer macht es sich mit den Füßen auf der Vorderlehne bequem. | |
Irgendwann herrscht munteres Kommen und Gehen, wobei das Wiederkommen | |
vermutlich auch mit den Kompositionen von Trond Reinholdtsen zu tun hat. | |
Die erinnern an Puccini-Arien, aber auch an Cabaret-Musik und Oldschool | |
Hiphop und bringen ein bisschen Leichtigkeit in das düstere Stück. | |
Ab Stunde sechs ist der Ehrgeiz geweckt. Wenn man es bis hierhin geschafft | |
hat, schafft man auch den Rest. Und überhaupt: Was sollen erst die | |
Schauspieler*innen sagen? Die hier hunderte Kartoffeln aus der Erde | |
wühlen oder mit einer Sexpuppe auf dem Rücken über die Sitzplätze rasen | |
müssen – ohne dafür auch nur einen Funken Ruhm zu kriegen, weil ihre | |
Gesichter hinter den Masken verborgen sind. | |
Pünktlich um 2 Uhr nachts ist es dann vorbei. Das heißt: Der erste Akt – | |
und ein winzig kleines Stück vom zweiten. Aber waren die 8 Stunden jetzt | |
eine Zumutung? War es ärgerlich – oder grandios? Ja, ja und ja, möchte man | |
antworten. Die Fortsetzung des zweiten Aktes wird man trotzdem skippen, | |
vielleicht ist man ab Akt drei wieder dabei. | |
30 Sep 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Aus-der-Verdraengungshoelle/!224714&s=Vegard+Vinge+und+Ida+M%C3%BCller… | |
[2] /Protest-an-der-Berliner-Volksbuehne/!6050329 | |
[3] /Neuer-Intendant-an-der-Volksbuehne-Berlin/!6067920 | |
[4] /Nachruf-auf-Dramaturg-Carl-Hegemann/!6084347 | |
## AUTOREN | |
Anna Fastabend | |
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