# taz.de -- Szenische Lesung von Correctiv: Recherche und Inszenierung | |
> Das Investigativteam Correctiv führt seine viel diskutierte Recherche zum | |
> „Geheimtreffen“ von Rechten als szenische Lesung im Berliner Ensembles | |
> auf. | |
Bild: Vlnr: Veit Schubert, Max Gindorf, Constanze Becker, Oliver Kraushaar, And… | |
„Welche Verstärkung für Religion und Gesetze, wenn sie mit der Schaubühne | |
in Bund treten“, schrieb Friedrich Schiller in seiner Theorie über ein | |
politisch wirkendes Theater. Wie diese Theorie praktisch aussehen kann, war | |
am Mittwoch in der szenischen Lesung [1][„Correctiv enthüllt“] am Berliner | |
Ensemble spürbar. Man stiftete ein politisches Kollektiv. | |
Gleichzeitig zu den 700 Zuschauern im Theater verfolgten mehr als 19.000 | |
Menschen die Theaterperformance über Livestream. Den hatte das BE zusammen | |
mit dem Volkstheater Wien und der Onlineplattform www.nachtkritik.de | |
angeboten. | |
Dass die Resonanz so groß war, lag wohl auch daran, dass sich über 40 | |
Theater, Opernhäuser, Festivals und Kultureinrichtungen aus ganz | |
Deutschland an dem Stream beteiligten. Sie verbreiteten ihn über ihre | |
Kanäle oder machten ihn über ihre Website zugänglich. Theater in Bochum, | |
Dresden, Hannover, Rostock und Oberhausen boten zudem ein Public Viewing | |
an. So geschlossen zeigte sich Kulturszene schon sehr lange nicht mehr. | |
## Was für ein Masterplan? | |
Eine Woche zuvor hatte das Investigativkollektiv Correctiv eine Recherche | |
über ein Treffen völkischer Politiker, Aktivisten, Privatpersonen und | |
Unternehmer veröffentlicht. Das Treffen hatte am 25. November in einer | |
Potsdamer Villa stattgefunden. Dort sei unter anderem ein „Masterplan“ | |
besprochen worden, der die millionenfache Ausweisung von Menschen mit | |
Migrationsgeschichte aus Deutschland vorsehe. Auch von Personen, die einen | |
deutschen Pass haben, und auch mittels „Druck“, wie es dort geheißen haben | |
soll. | |
Auf dem Treffen wurde das als „Remigration“ gelabelt, ein beschönigender | |
Kampfbegriff, den Rechte schon lange verwenden. Bei dem Treffen waren auch | |
ranghohe AfD-Politiker anwesend. Die Enthüllungen hatten große Wellen | |
geschlagen. | |
Natürlich hatte man sich schon vorher denken können, dass es solche Treffen | |
gibt, und von „Remigration“ sprechen die Rechten seit Jahren. Auch, dass | |
ranghohe AfD-Politiker völkisch eingestellt sind und von massenhaften | |
Ausweisungen träumen, ist nichts Neues. | |
## Aktenzeichen XY-Ästhetik | |
Man fragte sich also, was das soll: Der große Knall, die investigative | |
Enthüllung eines „Geheimplans“. Noch dazu veröffentlicht auf der Website | |
des Kollektivs in Form eines Dramas, mit Prolog, Akten und Epilog. Versehen | |
mit einer Aktenzeichen-XY-Ästhetik, die dieses Treffen noch geheimnisvoller | |
erscheinen lässt. | |
Unter Leitung von Regisseur Kay Voges, Leiter des Wiener Volkstheaters, | |
hatte das Berliner Ensemble eine szenische Lesung zur Recherche | |
angekündigt. Darin sollten auch „neue Details“ veröffentlicht werden. Aber | |
warum in der Form einer szenischen Lesung? Und welche neuen Details? | |
Weshalb hat man diese nicht gleich veröffentlichen können? Warum also das – | |
sprichwörtliche – Theater? | |
Im Gespräch mit der taz sagte der Journalist und Aktivist Jean Peters, der | |
an der Recherche beteiligt ist und am Stück mitschrieb: „Die Menschen | |
sollen gemeinsam eine Erfahrung machen. Deshalb wollen wir die Recherche | |
ins Theater bringen.“ Als man das Stück gesehen hatte, verstand man, was er | |
im Sinn gehabt hatte. Danach gab es minutenlang stehende Ovationen. Leute | |
im Saal riefen: „Alle zusammen gegen den Faschismus.“ Es herrschte | |
Einigkeit. | |
## Festliche Tafel | |
Die neuen Details, die veröffentlicht wurden, waren darüber fast ein wenig | |
egal. Während der Vorstellung saßen die Darsteller um eine festliche Tafel. | |
In verteilten Rollen spielten sie die angeblichen Geschehnisse in Potsdam | |
nach. Im Hintergrund zeigte man Fotos der Teilnehmer des Treffens, erzählte | |
deren Lebensgeschichte und zeigte auch Fotos des Hotels und des | |
Tagungsraums. | |
Auf der Bühne verrenkten sich die Schauspieler sprachlich immer wieder – | |
möglicherweise um drohenden Klagen der AfD und ihres Umfelds vorzubeugen. | |
Sagte zum Beispiel derjenige Darsteller etwas, der an [2][Mario Müller, | |
Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten,] angelehnt ist, wurde erst | |
drei Mal hintereinander gesagt, die Person hieße „Nicht-Mario-Müller“. | |
Dann hieß es irgendwann doch, es werde Mario Müller dargestellt. Im Grunde | |
war die Person damit beides und niemand zugleich. Derart zur Kunstfigur | |
erhoben, konnte sie alles sagen, was nach Correctiv-Recherche auch der | |
echte Mario Müller in Potsdam gesagt haben könnte. Sicher war man sich als | |
Zuschauer nicht mehr: Sprechen die Figuren den in Potsdam gesprochenen Text | |
nach oder wird hier dramatisch zugespitzt? | |
## Auf Messers Schneide | |
Es war ein Balanceakt, wohl nicht nur auf Messers Schneide der | |
Kunstfreiheit, wie es im Stück immer wieder ironisiert wurde, sondern auch | |
auf Messers Schneide der journalistischen Sorgfaltspflicht. Denn woher hat | |
Correctiv die hier vermittelten Informationen? Im Stück selbst wurde auf | |
einen möglichen Informanten verwiesen. Aber sind die „Gedächtnisprotokolle�… | |
auch im Detail akkurat? | |
Das Magazin Cicero hat mit Verweis auf einen Teilnehmer des Treffens Teile | |
der Recherche von Correctiv mittlerweile in Zweifel gezogen. Ob manches so | |
gesagt wurde wie berichtet, wird in Frage gestellt. Die Absicht der | |
Correctiv-Recherche scheint indes offenkundig: In dem zeitgleich zum Stück | |
veröffentlichen neuen Artikel auf ihrer Website ist von einem | |
„Verbotsverfahren“ gegen die AfD die Rede. | |
Am Mittwochabend konnte man im Berliner Ensemble sehen, wie man für diese | |
Forderung eine breite Masse an Menschen erreichen und elektrisieren kann. | |
Die Selbstinszenierung von Correctiv als James-Bond-mäßige Agenten, die mit | |
kamerabestückten Uhren Geheimtreffen von Rechtsextremisten und deren | |
Unterstützern auffliegen lassen, kam gut an. | |
18 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Winter | |
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