Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Theater über Gesellschaft ohne Zukunft: Aufgang der Vergessenen
> Das Nationaltheater Mannheim bringt mit „Der Grund. Eine Verschwindung“
> eine vielschichtige, klug durchkomponierte Parabel auf die Bühne.
Bild: Zeitvertreib unter Wasser in „Der Grund. Eine Verschwindung“ am Natio…
Bereits nach den ersten zehn Minuten denkt man: ein Fiasko. Sich hölzern
bewegende Figuren deklamieren hölzern klingende Sätze. „Wie spät ist es?�…
wiederholt ein Jäger in Beckett’scher Manier, bevor er, wie eine andere
Figur bekundet, zu masturbieren beginnt. Sind wir also wieder mit einem
postmodernen Theaterabend konfrontiert, der nichts anderes als die
Absurdität des Daseins zu bebildern sucht? Könnte man meinen.
Aber dann! Dann kommt das Stück „Der Grund. Eine Verschwindung“ unter der
Regie von Pablo Lawall [1][am Nationaltheater Mannheim] in Fahrt und es
entsteht ganz großes Theater. Mehr und mehr wird stellt sich heraus, dass
wir es mit einer vielschichtigen, klug durchkomponierten Parabel zu tun
haben.
Im Zentrum steht ein vielen Rückkehrern aus dem Italienurlaub bekannter
Ort, nämlich der Stausee am Reschenpass. Nachdem dafür das einstige Dorf
Graun geflutet wurde, ragt noch heute ein Kirchturm aus dem Wasser. Das
Autor:innenduo Ivana Sokola und Jona Spreter wagt derweil den Blick
unter die Oberfläche und erzählt von einigen Menschen (Sarah Zastrau, Almut
Henkel u.a.), die noch immer ihre versunkenen Häuser bewohnen.
Stehen geblieben in der Zeit und fernab allen spät modernen Trubels, gehen
sie ihrem ritualisierten Alltag nach und treffen sich in der Backstube,
einem verstaubten 60er-Jahre-Interieur mit Plastikstühlen und
schnörkellosen Holztischen. Im Hintergrund schauen wir durch ein Fenster
mit Lamellen auf den besagten Kirchturm. Zu dieser höchst artifiziellen
Sphäre passen natürlich die automatenhaften Gesten zu Beginn, die erst ein
Ende finden, als den Bewohner:innen der Unterwasserwelt angetragen
wird, endlich aufzutauchen – ein zunächst verlockendes Angebot, das ebenso
ein intensives Spiel zwischen den Protagonisten einleitet.
Sie unterhalten sich über Erinnerungen an früher, träumen vom Urlaub in der
Südsee, von trockenen Behausungen. Nur wollen die „Vergessenen“ überhaupt
ihren Behaglichkeitskokon verlassen? Genau an dieser Frage entfalten sich
diverse Deutungsmöglichkeiten. Die offensichtlichste forciert eine
lethargische Gesellschaft. Aus Angst vor den Unwägbarkeiten über dem
Wasserspiegel verharrt sie in der dauerhaften Gegenwart.
Einst haben ihre Mitglieder Widerstand gegen den
Schaufelbagger-Kapitalismus geleistet. Nun ist ihnen ihre Zukunft
abhandengekommen. Insbesondere die Schlussszene dokumentiert die Folgen
jenes Stillstandes. Sind letztendlich die meisten Bewohner:innen oben
angekommen, landen sie als Exponate in einem Museum, als verstaubte Figuren
einer untergegangenen Ära.
## Nicht in selbstzirkulären Diskursblasen verharren
Weitaus subtiler als diese Großmetapher auf unser soziales Gefüge, das in
Zeiten der Krise die Aussicht auf ein besseres Morgen aufzugeben droht,
fällt die in dem Arrangement angelegte Selbstreflexion des Theaters aus.
Dass alles, was wir sehen, Schauspiel und damit Erfindung ist, gibt von
Anfang an ein dünner Vorhang zu erkennen. Mehrfach zieht ihn die
Museumsdirektorin (Maria Munkert) vor der klassischen Guckkastenbühne auf
und zu.
Dahinter werden wir eines Ensembles gewahr, das – im übertragenen Sinne und
mit typisierten Figuren wie der Bankangestellten, der Bäckerin oder dem
Jäger – Altbewährtes und Klassikerzitate zum Besten gibt.
Es ist ein Theater, das nur sich selbst zum Maßstab nimmt. Sobald es sich
den Wünschen des Publikums hingibt, seine Akteure sinnbildlich an der
Oberfläche auftauchen, wird es Kommerz, wird es konsumierbar wie
Ausstellungsstücke.
Soll die Bühne also nur sich selbst vertrauen oder sich doch öffnen, um
nicht in selbstzirkulären Diskursblasen zu verharren? Diese sind nur einige
Überlegungen an einem Abend voller Denkimpulse, der durch Intelligenz und
Fabulierlust besticht.
2 Oct 2024
## LINKS
[1] /Amir-Gudarzi-ueber-Sprache-und-Gewalt/!6015981
## AUTOREN
Björn Hayer
## TAGS
Theater
Mannheim
Gesellschaftskritik
Zukunftsvision
Mannheim
Theater
Theater
Theater
Deutsches Theater
Theater
Theater
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Der Operndirektor“ in Mannheim: Keine Lust zur Provokation
Kritik am eigenen Tun ist am Theater gerade in. Aber Domenico Cimarosas
Satire „Der Operndirektor“ am Nationaltheater Mannheim zündet nicht.
Theaterstück „Druck!“ in Mannheim: Was ist oben weiß und unten schwarz?
Geteilte Erfahrungen: Das Nationaltheater Mannheim macht die aktuell
schwierige Lage von Menschen mit migrantischen Hintergründen zum Thema.
Theaterstück über Felix Hartlaub: Im Epizentrum der Nazis
Das Nationaltheater und die Kunsthalle Mannheim bringen das kurze Leben des
Kriegstagebuchschreibers Felix Hartlaub auf die Bühne.
T.C. Boyles „Blue Skies“ im Theater: Kleine und große Katastrophen
Das Deutsche Theater bringt T. C. Boyles Roman „Blue Skies“ auf die Bühne.
Es ist ein Stück zwischen Klimakrise und Ehedämmerung.
Fellini-Adaption am DT Berlin: Bumm bumm bumm
Wie wird es weitergehen? Düstere Aussichten auf und hinter der Bühne
verhieß ein Abend am Deutschen Theater in Berlin: „Das Schiff der Träume“.
Theater über Rechtsruck in Österreich: Bobos versus Bauern
Das Schauspielhaus Graz bringt ein Stück von Thomas Köck auf die Bühne. Es
beleuchtet, wie das Rechtsextreme in Österreich in der Mitte ankam.
Politisches Theater: Krawalle um Platon
Nach 20 Jahren Osterweiterung dominiert die Ernüchterung. Das ist das
Ergebnis einer Themenwoche am Nationaltheater Mannheim.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.