| # taz.de -- „Die Perser“ in Göttingen: Den Mut finden, selbst zu handeln | |
| > Vor fast 2.500 Jahren wurden „Die Perser“ erstmals aufgeführt. Nun hat | |
| > die Regisseurin Ivana Sokola das antike Drama mit Anspielungen auf die | |
| > Gegenwart versehen. | |
| Bild: Woran orientieren, was glauben? Szene aus „Wir Perser“ | |
| Uraufgeführt vor fast 2.500 Jahren sind „Die Perser“ von Aischylos | |
| weiterhin von großer Wucht. Denn die behandelte Hybris in staatlichen | |
| Führungsetagen sowie daraus folgende Gewaltexzesse sind ja nach wie vor | |
| weltweite Praxis. Um das noch deutlicher zu machen, hat die junge | |
| [1][Dramatikerin Ivana Sokola] den Text für das [2][Deutsche Theater in | |
| Göttingen] überschrieben, inklusive Hier-und-heute-Jargon sowie humorvollen | |
| Volten. Branko Janack inszeniert das vor einer Wellblechwand in direkter | |
| Publikumsansprache. | |
| Im Original erhebt zuerst der persische Chorführer seine Stimme, um von | |
| König Xerxes zu erzählen, der mit riesigem Heer gegen Griechenland zog, um | |
| sich für die von seinem Vater bei Marathon verlorene Schlacht zu rächen. | |
| Sokola lässt ihn später behaupten, er habe sein Land zu alter Größe | |
| verhelfen und zeigen wollen, dass die Perser wieder wer sind. | |
| Ohne es auszuspielen oder auch nur anzuspielen, das ist die | |
| Aufführungstaktik, wird so etwa auf Trumps machopolitisches Gebaren sowie | |
| den barbarischen Krieg verwiesen, den Putins Russland gegen die Ukraine | |
| führt. | |
| Bei Sokola tritt zuerst aber eine Botin auf, gibt ein bisschen die Autorin | |
| des Abends und belehrt das Publikum über die Anatomie dramatischen | |
| Erzählens, will die Kriegstoten als um Mitleid bettelnde Gespenster | |
| lebendig werden lassen – mit dem Ziel: „Lernt etwas daraus.“ | |
| ## Verwässerte Tatsachen | |
| Vertreter:innen der daheimgebliebenen, also nicht kriegstauglichen | |
| Perser stellen den Chor. Es ist ein Knäuel zitternd, wimmernd Klagender, | |
| die die Abwesenheit ihrer Männer, Kinder, Brüder beweinen, eingehüllt in | |
| öden Radiopop, was natürlich niemanden beruhigt. Nun rückt wie bei | |
| Aischylos die einstige Königin Atossa (Andrea Strube) in den Mittelpunkt. | |
| Sie ist in Göttingen keine verzweifelnde Schmerzensmutter, voller Besorgnis | |
| um ihren Sohn Xerxes, sondern hat sich bereits auf seinen Thron gesetzt und | |
| versucht mit Werbebotschaften wie Freiheit, Freizeit, Gerechtigkeit eine | |
| matriarchale Gesellschaft aufzubauen. Während der Chor dabei erst mal an | |
| lähmende Bürokratie denkt, moderiert Atossa dessen Wankelmut in der | |
| strahlend manipulativen Art modernen Politmanagements und behauptet: „Ich | |
| lasse eure Kinder betreuen / Ich mache den Strom grün / Ich verbiete den | |
| Autos zu fahren, zumindest schneller als 30.“ | |
| Aber alle haben einfach nur Angst: „Wir hocken hier / In männerfreien | |
| Häusern / Wie gähnende Münder / Mit Kindern wie Karies. / Kein Bakterium | |
| verschont uns / Die Geier ziehen schon Kreise / Wer verteidigt uns?“ | |
| Nachrichten von der Front kommen per Unheilsboten. Pathetisch beschreibt | |
| der den Untergang des persischen Heeres, verschlungen vom Meer nahe der | |
| ägäischen Insel Salamis. Weitere Bot:innen berichten aus ihrer | |
| Perspektive vom Grauen der Niederlage. Ein Hin und Her von „So war es“ und | |
| „So war es nicht“. Eben wie in den Selbstdarstellungsforen des Internets – | |
| einem endlosen Strom widersprüchlicher Behauptungen, Erwägungen und | |
| Meinungen. Woran orientieren, was glauben? Es folgt der bekannte Vorwurf | |
| interessengeleiteter Desinformationen: „Die Wahrheit ist pleite. / | |
| Emotionen sind die neue Währung“. | |
| Passend zu dieser Verwässerung der Tatsachen wird die Spielfläche | |
| gewässert, um die sprachliche Ebene bildsymbolisch aufzuladen. Das Wasser | |
| tanzt mit dem reflektierenden Bühnenlicht bezaubernde Projektionen auf die | |
| Rückwand. | |
| Auftritt Xerxes (Paul Trempnau). Der Heerführer versucht, sich aus der | |
| Schuld für Hunderte versenkte Schiffe, Zehntausende Tote, das Leid der | |
| Hinterbliebenen und das Ende der persischen Seeherrschaft herauszureden. Er | |
| will wieder König sein, Atossa aber nicht weichen. Und wie verhält sich der | |
| Chor in diesem umkämpften Machtvakuum? Startet eine revolutionäre Bewegung? | |
| Leider genauso wenig wie im heutigen Russland oder Iran. Aus Trauer, | |
| Schmerz, Verzweiflung erwächst in einer Zeit der Ungewissheit vielmehr | |
| Jubel für Xerxes als die starke männliche Hand, der von der Mutter als | |
| „verzogener Sohn“ und „Versager“ bezeichnet wird. | |
| Im Gegensatz zur Vorlage mit ihren Monologblöcken ist hier also richtig was | |
| los in Rede und Gegenrede. Der Regie gelingt mit viel Witz eine dichte, | |
| kurzweilige Inszenierung. Für die Sokola eher assoziativ denn stringent die | |
| Archaik der Vorlage mit reichlich Anspielungen auf gegenwärtige politische | |
| und soziale Entwicklungen verschweißt. | |
| [3][Bei Aischylos] geht es um den empathischen Blick auf die Nöte des | |
| besiegten Feindes, bei Sokola um den Versuch, die Tragödie für den Mut | |
| eigener Handlungsoptionen zu öffnen. „Wenn wir durch das Erzählen die Macht | |
| haben / Die Welt neu zu erfinden – / Wieso tun wir das nicht?“, sagt die | |
| Botin im Epilog. Also wo ist das Theater, dass der Autorin den Stückauftrag | |
| erteilt, genau das zu tun? | |
| 29 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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