# taz.de -- Göttinger Theaterintendant Erich Sidler: Der Kulturgestalter | |
> Mit Leidenschaft und Mut durch Krise und Sanierungsstau: Erich Sidler | |
> führt das Deutsche Theater Göttingen als Raum für Dialog und Demokratie. | |
Bild: Geht gegen Kulturabbau in die Offensive: Erich Sidler | |
Zehn Jahre wolle er bleiben. Das hatte sich Erich Sidler vorgenommen, als | |
er zur Spielzeit 2014/15 die Intendanz des [1][Deutschen Theaters in | |
Göttingen], kurz DT, übernahm. Den Schweizer, aus Luzern gebürtig, | |
interessierte gerade diese renommierte deutsche Sprechbühne, die im 19. | |
Jahrhundert auf Veranlassung der Göttinger Bürgerschaft errichtet wurde. | |
Denn sie steht in einer anderen Tradition und für einen anderen Geist als | |
die vielen Nachfolgeinstitutionen höfischer Opern-, Ballett- und | |
Schauspielhäuser in Deutschland. Hier sei es richtig zu „gestalten“, so | |
Sidler. Das vergleichsweise kleine Haus mit rund 160 Mitarbeitenden sei | |
wendig, habe ein hochmotiviertes, tolles Ensemble. Jede:r kenne jede:n, | |
„viele Dinge lassen sich auf dem Flur klären“. | |
## „Solide Führung“, „angenehme Atmosphäre“ | |
[2][Im Sommer 2022 unterschrieb Sidler einen Verlängerungsvertrag], er kann | |
somit bis 2029 als Intendant in [3][Göttingen] wirken. Oberbürgermeisterin | |
Petra Broistedt und der Aufsichtsrat des Theaters unterstrichen die „solide | |
Führung durch die Coronazeit“ sowie die „politisch-künstlerische | |
Schwerpunktlegung“ des Intendanten. Sidler selbst benannte „die angenehme | |
Arbeitsatmosphäre“ sowohl im Theater als auch generell in der Stadt als | |
Beweggrund seiner Entscheidung. | |
Hinzu kommt die bevorstehende Sanierung des Hauses mit drei Spielstätten | |
und allen notwendigen Gewerken. Das historistische Theater anno 1890 in | |
bildungsbürgerlicher Neo-Renaissance-Architektur ist durchaus schmuck | |
anzuschauen, der gläserne Foyer- und Erweiterungsbau aus den 1980er Jahren | |
stellt eine postmodern zeichenhafte Brechung im Bestand dar. Gleichwohl | |
schlummert in diesem Architekturensemble ein Sanierungsstau „zwischen 63 | |
Millionen und 185 Millionen Euro“, [4][wie das Göttinger Tageblatt im Jahr | |
2020 zu beziffern wusste]. | |
Denn in Deutschland ist nicht nur die technische Infrastruktur aus Straßen, | |
Brücken und Bahnen marode, die kulturelle Infrastruktur ist es in nicht | |
geringerem Maße. Politiker:innen betonen in ihren Sonntagsreden zwar | |
immer gerne, dass die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft ja seit | |
Ende 2014 zum immateriellen Unesco-Kulturerbe zähle – solch Worten folgt in | |
der Regel: wenig bis nichts. | |
## Dritter Minister, derselbe Intendant | |
Das alles kennt Erich Sidler zur Genüge – er hat es mittlerweile mit dem | |
dritten Kulturminister während seiner Intendanz zu tun –, es scheint ihn | |
aber nicht zu demotivieren. Denn die Sanierung eines Theaters heißt eben | |
nicht, irgendwelche Gebrechen abzustellen, sondern ein Haus leistungsfähig | |
zu machen, für theatrale und gesellschaftliche Anforderungen der nächsten | |
zwanzig Jahre. Also wieder eine Aufgabe der „Gestaltung“ nach dem Gusto | |
Sidlers. | |
In Göttingen stellt das Theater nicht nur einen kulturellen | |
Identifikationspunkt dar, bietet einen Ort des Austausches sowie des | |
Verhandelns demokratischer Werte und Zukunftsideen. Es ist in dieser | |
Wissenschafts- und Universitätsstadt auch ein wichtiger, sinnlich | |
künstlerischer Gegenpart zur akademisch analytischen Vorherrschaft ihrer | |
Forschungslandschaft. | |
„Kunst ist Ambiguität“, so Sidler, also immer mehrdeutig, er setzt auf das | |
„Wirkenlassen“ der Inszenierungen seines Hauses, mit Erkenntnisgewinn. Den | |
Dorfrichter Adam aus Kleists „Der Zerbrochne Krug“, 2025 Abiturstoff in | |
Niedersachsen und deshalb in vielen Häusern aufgeführt, ließ Sidler unter | |
der Regie des Österreichers Moritz Franz Beichl als Hanswurst rüberkommen, | |
der zum Ende ungeniert von seinen Übergriffen auf Eve erzählt. Die Moral | |
also zerfällt: Wer denkt da nicht an das Selbstverständnis eines mächtigen | |
amerikanischen Politikers? | |
Kulturförderung, allerdings, ist Ländersache, auf freiwilliger Basis, somit | |
„Dispositionsmasse im großen Haushaltsgeschacher“ wie Sidler im | |
Programmheft zur kommenden Spielzeit unverblümt schreibt. Das Deutsche | |
Theater Göttingen ist als städtische Einrichtung, anders als die | |
Landesbetriebe der niedersächsischen Staatstheater, direkt dieser | |
Unberechenbarkeit ausgeliefert. | |
So im Sommer 2024, als alle Überlegungen zur Sanierung des Theaters | |
eingestellt, alle Ergebnisse eines jahrelangen Dialogs zwischen Theater, | |
Stadt und Expert:innen über Nacht verworfen wurden. Laut einer | |
Pressemitteilung der Stadt von Anfang Juli 2025 sollen jetzt zumindest | |
„Teilsanierungen“ in Angriff genommen werden. | |
Das DT Göttingen ist derzeit zudem von weiteren Sparmaßnahmen betroffen. | |
Stadt, Landkreis und Bundesland Niedersachsen entschieden sich, | |
Lohnanpassungen durch aktuelle Tariferhöhungen nicht zu übernehmen. Die bei | |
öffentlichen Auftragsvergaben eingeforderte „Tariftreue“: Intern scheint | |
sie verzichtbar. Das Theater strich zwei Produktionen, schmilzt Rücklagen | |
ab – und wird 2027 dann rechnerisch insolvent sein. | |
## Humoristische Gegen-Offensiven | |
Erich Sidler geht in die Offensive: ein „Info-Kampf-Blatt“ liegt aus, mit | |
einer Postkartenaktion der „Theater-Partei“ an die Politik. Auch den | |
populistischen Vorschlag eines Lokalpolitikers, [5][den Theaterbau zu | |
verkaufen], konterte er bereits mit einer humoristischen Aktion, „Theater | |
ohne Zukunft“. Im Februar verwandelten Lichtprojektionen das Theater zur | |
[6][Ikea-Filiale], zum Metzgerei-Imbiss, Matratzen-Discount oder | |
Fitness-Studio, Ensemble-Mitglieder warben als potenzielle | |
Betreiber:innen für ihr Konzept. | |
Die Botschaft: So sieht es aus, wenn ein Theater, wenn Räume der Begegnung, | |
des Dialogs und der Inspiration leise verschwinden, der Kommerzialisierung | |
weichen. „Ich mache keinen Kulturabbau“, stellt Erich Sidler nochmals klar. | |
Die Aktion soll im Herbst fortgesetzt werden. | |
1 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Deutsches-Theater-Goettingen/!t5203841 | |
[2] https://nachtkritik.de/meldungen/deutsches-theater-goettingen-intendant-eri… | |
[3] /Goettingen/!t5010017 | |
[4] https://www.goettinger-tageblatt.de/lokales/goettingen-lk/goettingen/deutsc… | |
[5] https://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/deutsches-theater… | |
[6] /Ikea/!t5031140 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
## TAGS | |
Deutsches Theater Göttingen | |
Göttingen | |
Kulturpolitik | |
Finanzen | |
Niedersachsen | |
Deutsches Theater Göttingen | |
Theater | |
Kulturförderung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theater übers Scheitern: Gar nichts klappt in Göttingen | |
Die britische Spiel-im-Spiel-im-Spiel-Komödie „Dieses Stück geht schief“ | |
führt ins Chaos – und kommt dabei ohne irgendein Interesse an den Figuren | |
aus. | |
Theater über den Ukraine-Krieg: Liebe ist auch nur ein Schlachtfeld | |
Ein Höhepunkt der Theatersaison: Mit Natalia Vorozhbyts Drama „Zerstörte | |
Straßen“ führt Niklas Ritter in Göttingen mitten in den Ukraine-Krieg. | |
Kulturförderung in Niedersachsen: Doch nicht so wichtig | |
Im Haushaltsentwurf der niedersächsischen Landesregierung ist von | |
Investitionen für Theater keine Rede mehr. Kritiker sprechen von Wortbruch. |