# taz.de -- Französische Literatin im Theater: Vom Wühlen im Abgrund der Fami… | |
> Mit der Dramatisierung von Delphine de Vigans „Nichts widersetzt sich der | |
> Nacht“ beseitigt das Deutsche Theater Göttingen einen Missgriff der | |
> Übersetzung. | |
Bild: Jenny Weichert, Angelika Fornell und Tara Helena Weiß inmitten der Plast… | |
Es gilt als uncool, noch als Erwachsener damit zu hadern, dass Eltern, | |
Familie, Erziehung verantwortlich dafür seien, warum man kein Standbein ins | |
Leben bekommt. Für cool wird hingegen gehalten, die rumorende | |
Ausformulierung der eigenen Persönlichkeit nicht einfach nur erduldet, | |
sondern im Sinne der existenzphilosophischen Freiheit selbst kreiert zu | |
haben. | |
Dass es so einfach leider nicht sei, Erlebnisse der Kindheit und Jugend | |
seelische Verheerungen anrichten können, die nicht fix mal wegzutherapieren | |
seien, das behauptet [1][Delphine de Vigan in ihren Büchern], ja, es | |
scheint geradezu der Anlass für ihr Schreiben zu sein. Die französische | |
Literatin spricht von einem Fluch, der auf ihrer Familie laste, in der sich | |
tragische Todesfälle sowie Suizide häufen. Und sie sucht Gründe, warum ihre | |
alleinerziehende Mutter Lucile dem Alltag nicht gewachsen war, sich | |
zunehmend verunsichert und verängstigt abgrenzte, mit Alkohol und | |
Marihuana, später mit Psychopharmaka betäubte und sich schließlich das | |
Leben nahm. | |
Wie die in Schuldfragen verstrickten Hinterbliebenen damit umgehen, das | |
untersucht die Autorin in ihrem virtuosen Spiel mit Autobiografie, | |
Autofiktion und Erzählung ebenso wie die Überforderungen der Mutter sowie | |
die Folgen für viel zu früh auf sich allein gestellte Kinder – und zieht | |
beispielsweise eine Verbindung zu ihrer Magersucht. „Rien ne s’oppose à la | |
nuit“ ist das 2011 erschienene Buch betitelt. [2][Für die deutsche Ausgabe | |
prangt auf dem Cover „Das Lächeln meiner Mutter“]. Diesen | |
Übersetzungsmissgriff korrigiert nun das Deutsche Theater Göttingen und | |
bringt die Dramatisierung als [3][„Nichts widersetzt sich der Nacht“] | |
heraus. Gemeint ist die psychische Verfinsterung durch eine | |
manisch-depressive Erkrankung. | |
Da es um eine geradezu archäologische Erkundung des Lebens der Mutter | |
anhand hinterlassener Notizen, Briefe, Tagebucheinträge, Fotos geht und | |
dabei die Abgründe der Familiengeschichte als geradezu antiker Mythos | |
erscheinen, kommt die deutschsprachige Erstaufführung nicht im Theater, | |
sondern an der Universität Göttingen im Archäologischen Institut heraus. | |
Das residiert in der hübsch antiquierten Atmosphäre eines mehr als 100 | |
Jahre alten Seminargebäudes. Außergewöhnlich beeindruckend: In elf Sälen | |
drängeln sich [4][gipsweiße Abgüsse hellenischer und römischer Torsi], | |
Ganzkörperskulpturen und Friese in Originalgröße, mehr als 2.000 Exemplare | |
sind seit 1765 für Lehre, Forschung und museale Betrachtung angeschafft | |
worden. | |
Nun flanieren Theaterbesucher:innen durchs Treppenhaus und werden von | |
Schauspielerin Angelika Fornell in Empfang genommen. Als | |
Ausstellungsführerin erklärt sie anhand der Silikonabgussform einer | |
Athene-Statue, wie Gipsabbilder entstehen. Beim Verweis auf die Blaufärbung | |
des Silikons wechselt die Vortragende ihre Rolle. Schluss mit dem | |
Alltagsplaudertonfall, kunstvoll wird nun mit unsentimentaler Eleganz | |
prononciert: „Meine Mutter war blau, blassblau mit Aschetönen, die Hände | |
seltsamerweise dunkler als das Gesicht, als ich sie an jenem Januarmorgen | |
in ihrer Wohnung fand. Die Beugen ihrer Fingerknöchel sahen aus, als seien | |
sie voller Tintenflecken. Meine Mutter war schon seit mehreren Tagen tot.“ | |
Fornell ist jetzt die Autorin am Ausgangspunkt einer umfangreichen | |
Recherche und wechselt fortan mit den Kolleginnen Jenny Weichert und Tara | |
Helena Weiß, alle in gipsweißen Kostümen, ständig die Erzählhaltung. Sie | |
lesen schriftliche Fundstücke de Vigans vor, die aus Karteikästen und | |
Büchern purzeln, und rezitieren Gedichte, mit Baudelaire und weiteren | |
begnadeten Untergehern einer späten Romantik hatte Lucile sich | |
verschwistert. | |
## Wunderbar pointierte Inszenierung | |
Vermutungen über die Bruchlinie ihrer Biografie werden ausführlich | |
erläutert, etwa dass sie selbst notiert hat, mit 16 vom Vater vergewaltigt | |
worden zu sein. Hinzu kommen die Haltlosigkeit ihrer Hippie-Großfamilie, | |
der Tod dreier Brüder, scheiternde Liebesgeschichten, frühe | |
Schwangerschaft, Lungenkrebsdiagnose …, ergänzt werden Erinnerungen, | |
Analysen, Vermutungen und Selbstreflexionen der Autorin. | |
Das Darstellerinnentrio lauscht auch Zitaten aus de Vigans Interviews mit | |
Verwandten und entwickelt aus dem lebendig verknoteten Miteinander immer | |
wieder Ausflüge ins Rollenspiel, repräsentiert dabei unterschiedliche | |
Persönlichkeitsaspekte Luciles und verkörpert Familienmitglieder. | |
Als diese werden auch die stummen Zeugen des Gipspanoptikums gern mal | |
ausgeleuchtet und angespielt. Zusätzlich setzt Regisseurin Schirin | |
Khodadadian auf symbolische Szenen-Miniaturen: Eben wurde das Publikum noch | |
darauf hingewiesen, dass es das Allerschlimmste sei, wenn ein | |
Sammlungsobjekt beschädigt werde, nun transportieren die Spielerinnen eine | |
Gipsfigur durch die Säle, schreien plötzlich auf und verweisen auf | |
Gipsbrösel am Boden. Ein Missgeschick? Ein Unfall? Nein, das Bild für die | |
gerade beschriebene Katastrophe: Ein Bruder Luciles ist ertrunken. | |
Die Inszenierung will mit all dem Leid beim Publikum vor allem Sympathie | |
für Lucile wecken, als Hommage an sie versteht de Vigan auch ihr Buch. Geht | |
es um Versöhnung dank geschönter Erinnerungen? Jedenfalls werden Luciles | |
Erfolge gefeiert als Modell und die wilde Unkonventionalität, das | |
Rebellentum sowie ihr literarisches Talent bewundert. Wie eine Statue sitzt | |
eine Lucile-Darstellerin bald verloren auf einem Podest – am Ende wird an | |
ihrer statt eine strahlend bunte „Artemis von Pompeji“-Replik | |
hereingeschoben. | |
So wie dort die Bemalung des vor über 2.000 Jahren in Marmor gehauenen | |
Originals auf einem Mix aus wissenschaftlicher Rekonstruktion und Fantasie | |
beruht, wird an diesem Abend aus Wunsch und Wirklichkeit ein Bild Luciles | |
entworfen. Sie soll nicht zerbrochen, nicht mehr zerbrechlich, sondern | |
wieder wunderschön sein. Eine Fiktion – als Trost gegen den Schmerz und die | |
Sprachlosigkeit. Ein Selbsttherapievorschlag für Betroffene. So | |
faszinierend der Text – so wunderbar pointiert die Inszenierung. | |
11 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Roman-ueber-kindliche-Influencer/!5857570 | |
[2] https://www.dumont-buchverlag.de/buch/de-vigan-das-laecheln-meiner-mutter-9… | |
[3] https://www.dt-goettingen.de/stueck/nichts-widersetzt-sich-der-nacht | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Arch%C3%A4ologisches_Institut_der_Universit%C… | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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