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# taz.de -- Roman über kindliche Influencer: Big Mother is Filming You
> Eine sechsjährige Influencerin verschwindet. Delphine de Vigans Roman
> „Die Kinder sind Könige“ erzählt von Ausbeutung in sozialen Medien.
Bild: In Delphine de Vigans Roman stellen junge Influencer ihr Glück via Youtu…
Ein Mädchen spielt mit Nachbarskindern in der Tiefgarage einer exklusiven
Pariser Wohnanlage Versteck. Und verschwindet. Ein Unglück oder die Tat
eines Pädophilen? Die Mutter geht bei der Vernehmung gleich von einer
Erpressung aus: „Wir sind berühmt, müssen Sie wissen. Die Kinder und ich.
Sehr berühmt … Ich bin sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt.“ Keiner
der Beamten hat je etwas von dieser Mélanie Diore gehört – eine Verrückte?
Keineswegs: Mélanie betreibt einen lukrativen Familienkanal auf Youtube,
mit Millionen von Abonnenten. In den Hauptrollen ihre sechsjährige Tochter
Kimmy und ihr achtjähriger Sohn Sammy. [1][Delphine de Vigans] neuer Roman
„Die Kinder sind Könige“ erzählt von einer perfekt ausgeleuchteten,
erschreckenden Familienidylle, in der die Wohnung nahtlos in ein Filmstudio
übergeht. Und an deren zur Schau gestelltem Glück jeder via Abo teilhaben
darf. Weshalb zum Beispiel beim Besuch im Schuhgeschäft die „lieben“
Follower entscheiden dürfen, welche Sneaker für Kimmy gekauft werden.
In anderen Videos müssen die Kinder scheinbar verzückt immer neue
Überraschungspakete auspacken oder Markenwaren mit No-Name-Produkten
vergleichen. Die Kinderzimmer ähneln Spielzeuggeschäften, mit Bergen
ungeöffneter Geschenkesets. Also ein durchaus ungewöhnlicher Fall für die
Polizei. Dass aber im Roman gleich mehrfach betont wird, wie sehr die Welt
der Kinderkanäle die „Vorstellungskraft“ der erfahrenen Ermittler
übersteigt, wirkt doch etwas unglaubwürdig, zumal halb Frankreich das Leben
der Diores zu verfolgen scheint.
„Die meisten Leute mögen uns“, lässt die Autorin ihre Hauptfigur der
Polizei erklären. „Das sagen sie uns oder sie schreiben es, sie fahren
Hunderte von Kilometern, um uns zu sehen … Einfach verrückt, diese ganze
Liebe, die wir empfangen. Sie können sich das nicht vorstellen. Aber
neuerdings gibt es Gerüchte, Verleumdungen, und jetzt sind uns manche Leute
böse. Sie wünschen uns Schlechtes. Weil sie neidisch sind …“ Tatsächlich
kommt bald schon der Brief des Entführers, der Mélanie dazu nötigt, ein
makabres [2][Unboxing-Video] zu veröffentlichen.
## Gescriptete Inszenierung
Was macht es mit Kindern, die als Prinz und Prinzessin voller Bewunderer
(und Hater) in einer Welt des entfesselten Konsumismus leben und in der das
Familienleben vom Moment des Aufstehens an eine gescriptete Inszenierung
ist? Nur sensible Zuschauer wie die Ermittlerin Clara Roussel, die sich mit
einer Mischung aus Faszination und Entsetzen durch das Archiv des Kanals
arbeitet, erkennen, welchem Druck Kimmy und Sammy ausgesetzt sind.
Dass die Sechsjährige auf den letzten Clips bevorzugt Kapuzenpullis trägt
und sich mit dem Rücken zur Kamera setzt, ist ebenso bezeichnend wie ihr
trotzig festgehaltenes Lieblingsspielzeug, ein zerschlissenes Stoffkamel,
das ihre Mutter nur verächtlich „Schmuseschmutz“ nennt.
In einem der von Clara gesichteten Clips findet Mélanie ihre Tochter einmal
sogar allein im Aufnahmestudio; schluchzend und voller Schuldgefühle will
das Mädchen seinen Fans gerade „für immer Adieu“ sagen. Prompt wendet sich
Mélanie zur Kamera an ihre „Lieben“, die Follower, und kommentiert
spöttisch: „Da seht ihr es, wir sind knapp davongekommen. Kimmy wollte
einfach von der Bühne abtreten.“
Um Missbrauch und fatale Abhängigkeiten ging es schon in früheren Romanen
von Delphine de Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“ (2011) erzählt von ein…
Frau, die als Mädchen von ihrer Mutter in eine Modelkarriere gedrängt wird;
in „Loyalitäten“ (2018) wird ein Zwölfjähriger wegen des Ehekriegs seiner
Eltern zum Alkoholiker.
## Virulentes Thema
Mit ihrem neuen Roman hat die französische Autorin ein Thema aufgegriffen,
das zwar nicht nur, aber gerade auch in ihrem Heimatland virulent ist. Erst
2020 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, dass Influencer-Kindern
das „Recht auf Vergessen“ zusichert.
Geschickt benutzt Delphine de Vigan dabei den Krimiplot als
Transmissionsriemen zur Anprangerung gesellschaftlicher und medialer
Entwicklungen. Zu Recht verortet sie zu Romanbeginn den historischen
Wendepunkt, den „Übergang vom Sehen“ zum „Gesehen-, Erkannt- und
Bewundertwerden-Wollen“, im Jahr 2001 mit der ersten Staffel der
französischen „Big Brother“-Ausgabe „Loft“.
Denn mit der Einführung des Reality-TV konnte plötzlich jeder berühmt
werden. Gerade für die Protagonistin Mélanie Diore wird dieses Motiv
zentral.
An ihrem in Rückblenden geschilderten Lebenslauf macht die Autorin
exemplarisch die mediale Entwicklung sichtbar: von einer eher desaströsen
Teilnahme an einer Dating-Sendung („26 Jahre. JUNGFRAU“, notiert die
Casterin begeistert) über Mélanies Faszination für Facebook, später Youtube
(„eine großzügige, wunderbare, allen zugängliche Welt“), um der Leere und
Einsamkeit ihres Hausfrauen- und Mutterdaseins zu entgehen, bis zur
lebensverändernden Geschäftsidee, der Entdeckung der ersten Kinderkanäle
aus den USA.
## Illusionen und Selbstlügen
So wie der Roman geschickt mit Elementen aus Kriminal-, Medien- und
Gesellschaftsroman spielt, so zieht die Autorin auch stilistisch
verschiedene Register. Routiniert wechselt sie zum Beispiel vom Protokoll-
oder Berichtston zur bedrückenden Sezierung der Innensicht ihrer Figuren
mit all ihren Illusionen und Selbstlügen. „Furchtbar gern“ ließen sich ih…
Kinder filmen, glaubt die Mutter trotz ihrer Verzweiflung über Kimmys
Verschwinden, überhaupt sei ihr Kanal „ein Geschenk, das Glanz in ihr
gemeinsames Leben gebracht hatte“.
De Vigans engagierter Roman ist, keine Frage, spannend zu lesen, leidet
aber daran, seinen Leser:innen kein eigenes Urteil zuzutrauen. Ein
Ärgernis ist auch die allzu küchenpsychologische Motivierung der beiden
Protagonistinnen. Hier Mélanie, die von ihrer Mutter nie ein anerkennendes
Wort erfährt und daher lebenslang nach Bestätigung lechzt, dort ihre
Gegenfigur: die empathische Polizistin Clara, die aufgrund ihrer Herkunft
aus einem linksliberalen Elternhaus mit der Digitalisierung fremdelt und
als nerdige Einzelgängerin ein wandelndes Klischee ist.
Überhaupt dienen gerade Claras Recherchen allzu offenkundig dazu, eine in
Sachen Social Media als gänzlich ahnungslos vorgestellte Leserschaft etwa
über die Unterschiede von [3][„Pranks“ und „Challenges“] aufzuklären.
Was macht es mit Kindern, die als Mini-Influencer in einer Traumwelt
aufwachsen? Der Roman verrät es im Schlusskapitel, einem Blick in die
Zukunft des Jahres 2031: Die volljährig gewordene Kimmy verklagt ihre
Mutter, ihr paranoid gewordener Bruder traut sich nicht mehr, seine Wohnung
zu verlassen.
Und ein Psychiater diagnostiziert bei vielen Jugendlichen ein
„Truman-Syndrom“: Wie die Filmfigur sind sie davon überzeugt, „dass sie
ständig gefilmt werden und dass jede Minute ihres Lebens irgendwo
wiedergegeben wird: in einer virtuellen Reality-TV-Sendung, auf einer
Social-Media-Plattform oder in den Tiefen des Darknets …“ Das darf,
angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der heutige Jugendliche selbst
Videos von sich posten, bezweifelt werden.
1 Jun 2022
## LINKS
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[3] /Memes-und-Trolle-im-Internet/!5476891
## AUTOREN
Oliver Pfohlmann
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