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# taz.de -- Theater-Saisonstart im Norden: Geschichten im Krisenmodus
> Post-Corona-Spielzeit #2 beginnt. Einen ambitionierten Anfang macht das
> Hamburger Ernst Deutsch Theater mit dem Bürgertums-Drama „Am Ende Licht“.
Bild: Auch zur Freundlichkeit fähig: Simon Stephens aktuelles Stück ist hoffu…
Schluss mit sommerlustig. Lehrende und zu Belehrende sind in die
Klassenzimmer zurückgekehrt, für die Schausteller:innen von Schmerz,
Lust und Gewissensforschung öffnen nach und nach die Theater wieder. War
die erste [1][Postcorona-Saison] mit vielen populären Angeboten vor allem
darauf ausgerichtet, Zuschauer:innen aus heimischen Sofalandschaften
zurück zu locken ins ebenfalls gepolsterte Parkett: Bricht sich nun
aufgestaute Experimentierlust wieder Bahn? Eine Möglichkeit dazu eröffnet
das Theater in Braunschweig mit dem [2][Genre-verwirrten Schauspiel
„Garland“] von Svenja Viola Bungarten. Weitere Saisonstarts im Norden
wirken dagegen eher vorsichtig bis übervorsichtig.
Zum Thema Alzheimer fällt den Verantwortlichen in Oldenburg etwa nur der
bundesweite Theaterhit „Vater“ von Florian Zeller ein. Andernorts sollen
Klassiker Aufmerksamkeit generieren: Celle geht auf Nummer supersicher mit
Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Bremen offeriert mit Lessings „Emil…
Galotti“ das Stück zum Abiturthema, immerhin aber auch mit einem
interessanten Dreh; Bremerhaven hat sich für Kleists nicht minder
kanonischen „Zerbrochnen Krug“ entschieden; Ibsens „Nora“ will sich in
Göttingen emanzipieren, Hannover lässt Shakespeares „Richard III.“ wüten.
Arg anbiedernd beginnt Wilhelmshaven die Saison mit einem
Zarah-Leander-Musical, in diesem Genre versucht Hildesheim dem „Woyzeck“
nahezukommen und Osnabrück bespaßt mit „Shakespeare in love“ das Publikum.
In Kiel und Schwerin läuft gleich das Kraftwerk der Gefühle heiß mit der
todtragisch zugespitzten Amor fou in Puccinis „La bohème“, Lübeck lud
vorab zu Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein, mithin zum Mitleiden, wenn zwei
Menschen an ihrer großen Liebe scheitern, Lüneburg setzt mit Purcells „Dido
und Aeneas“ ebenfalls auf gebrochene Herzen.
Um mit antiken Stoffen mehr als bipolarer Leidenschaftshuberei zu frönen,
einfach mal die Geschichte der Zivilisation zu erzählen, lockt das
Hamburger Deutsche Schauspielhaus zum wahrscheinlichen
Saisonstarthöhepunkt: einem gleich [3][fünfteiligen Premierenmarathon,
überschrieben „Anthropolis“]. Während die Konkurrenz des Thalia Theaters
mit der – wie es aussieht, schlecht gealterten – Aufregung um Benjamin von
Stuckrad-Barres MeToo-Medien-Roman „Noch wach?“ eher auf ein bisschen
Skandal setzt.
## Jede Menge soziale Probleme
Vor allen anderen aber kommt das ebenfalls Hamburger Ernst-Deutsch-Theater
aus den Startlöchern. Seine künstlerische Neuorientierung betont es mit
zeitgenössischer Dramatik: [4][Simon Stephens „Am Ende Licht“] bringt seit
dem 24. August ein Kompendium sozialer Probleme zur Premiere. Da bricht die
seit Monaten trockene Trinkerin Christine beim Griff ins Wodka-Regal des
Supermarkts zusammen und nutzt die Zeit bis zum vollständigen Ableben, um
mit ein paar versöhnlichen letzten Worten nochmal kurz bei ihrer Familie zu
schauen, was die gerade so treibt: Gatte Bernard versucht mit seiner
langjährigen Geliebten und ihrer Freundin irgendwie Spaß beim Sex zu haben.
Die in ihrer Einsamkeit verrückt werdende Tochter Jess hat selbst ein
Alkoholproblem und erwacht nach einem Besäufnis neben dem vor lauter
Schulden zum brutalen Geldeintreiber mutierten Michael. Die bockig
sarkastisch verzweifelte andere Tochter Ash kämpft nach gescheitertem
Suizid als alleinerziehend überforderte Mutter mit dem Junkie-Vater ihres
Babys um Unterhalt. Und Sohn Steven, vom Stress des Jurastudiums zermürbt,
ist in lodernder Trennungsangst auf seinen Liebhaber bezogen.
Sie alle kreiseln mehr oder weniger hilflos um die in ihnen tobenden
Dämonen und balancieren unsicher an den Abgründen ihrer Ich-Entwürfe. An
all dem zwischenmenschlichen Misstrauen weiß sich Christine mitschuldig –
als berauschte Leerstelle des Familienlebens.
Die Geschichten im Krisenmodus serviert Regisseur Elias Perrig ohne
Betroffenheitskitsch als behäbig textgetreue Collage ineinander geblendeter
Szenehäppchen. Surreal aufgelockert wird der Well-made-Realismus mit der
von Handlungsort zu Handlungsort in unterschiedlichen Verkleidungen/Rollen
geisternden Mutter. Super Schauspielfutter bietet dieses Sozio-Psychogramm
einer absturzgefährdeten Mittelschichtsfamilie.
Und es gibt auch überzeugende Darstellungen zu sehen: Neben [5][Maria
Hartmanns] Christine etwa Louisa Stroux. Sie gestaltet eindringlich Jess’
Entwicklung von der miesepetrig erwachenden, sich dann hohnlachend barsch
in der desolaten Katerstimmung behauptenden Frau, die für die erhofften
Möglichkeiten menschlicher Nähe schließlich auftaut, sich vor der
erwachenden Verliebtheit zwar ängstigt, dann aber mit warmherzigem Tonfall
ihren One-Night-Stand umgarnt, der demütig seine Wandlung vollzieht: vom
eiskalten zum scheu mitfühlenden Engel. Plump hingegen gerät Bernards
Auftritt: Christoph Tomanek zeigt die Midlife-Crisis nur triebanimiert
albern und verklemmt nervös, weswegen der unflotte Dreier im
Hotel-Himmelbett auf Boulevardtheaterniveau stattfindet.
Und doch wirkt der Abend dramaturgisch stringent. Alle Figuren sind erst
mal von ihrer unsympathischen Seite kennenzulernen: die Mutter im
Eröffnungsmonolog als vom Leben eher angeekelte Süchtige; die um sich
wütenden Kinder; der kindische Vater. Vielfach agieren sie zu laut, zu
grell, zu klischeehaft, bis ihre Problemlagen verständlich werden und die
Inszenierung Empathie für alle einfordert. Der Abend erhebt sich aus der
Trostlosigkeit und endet wie der Stücktitel verheißt: hoffnungsvoll. Das
schummrige Licht auf die der halbrund eingefassten Bühne wird nicht heller,
aber die fragilen Beziehungen scheinen zur finalen Beerdigungsfeier
gefestigt, alle kümmern sich liebevoll um Ashs Nachwuchs.
Eine Ode an heilend wirkende Familienbande? Dass Menschen nicht nur zur
Barbarei neigen, wie Stephens’ frühere Stücke zeigen, sondern auch zu
Freundlichkeit fähig sind, wird den Zuschauer:innen als leiser Appell
mitgegeben. Versöhnlich postdramatisches Theater, das die versehrten
Figuren wohlwollend ernst nimmt.
9 Sep 2023
## LINKS
[1] /Kultur-nach-der-Pandemie/!5850901
[2] https://staatstheater-braunschweig.de/produktion/garland
[3] https://schauspielhaus.de/anthropolis
[4] https://www.ernst-deutsch-theater.de/programm/veranstaltung/am-ende-licht-3…
[5] /Schauspielerin-ueber-ETA-Hoffmann/!5896770
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Theater
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