# taz.de -- Theaterstück über die Zukunft der Pflege: FP3 soll’s richten | |
> Das Staatstheater Oldenburg beschäftigt sich mit der Zukunft der Pflege. | |
> Das Stück „Requiem.exe“ versucht, etwas Optimismus in die Debatte | |
> einzubringen. | |
Bild: Leerstelle Mensch: Der siebengliedrige Roboterarm FP3 bleibt auf der Olde… | |
Keine bloße theatrale Fantasie: Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in | |
Deutschland wird sich von derzeit rund fünf Millionen Menschen auf knapp | |
sieben Millionen im Jahr 2055 erhöhen. Denn die Lebenserwartung steigt | |
weiter, die geburtenstarken Jahrgänge der „Babyboomer“ gehen in Rente. Ein | |
Mehrbedarf von 300.000 Pflegekräften ist dafür prognostiziert, von denen | |
derzeit 1,7 Millionen sozialversicherungspflichtig in Deutschland | |
beschäftigt werden. Was laut Gewerkschaft schon jetzt 100.000 zu wenig | |
sind, aus Sicht des Berufsverbandes der Pflegeberufe sogar 200.000 zu | |
wenig. | |
Der Mangel wird sich laut der Bundesagentur für Arbeit [1][weiter | |
vergrößern], derzeit kommen auf 100 gemeldete freie Stellen nur 33 | |
entsprechend ausgebildete Arbeitsuchende. Zudem gibt es Fluchttendenzen: In | |
einer 2021 veröffentlichten Studie gaben 40 Prozent der befragten | |
Pflegenden an, den Beruf wechseln zu wollen – [2][physische und psychische | |
Überlastung und dazu noch die arg geringe Bezahlung.] Ein brisantes Thema, | |
mit dem sich auch Theater nicht so gern beschäftigen – weil auch die | |
Tickets kaufenden Menschen sich damit nicht so gern beschäftigen. Werden | |
sie doch möglicherweise unangenehm daran erinnert, dass sie selbst alt, | |
gebrechlich, hilfsbedürftig werden – und würdelose letzte Jahre befürchten | |
müssen. | |
Vielleicht auch deshalb ist die Premiere von „Requiem.exe“ im Technical | |
Ballroom des Oldenburger Staatstheaters nur so schwach besucht gewesen. | |
Dabei versucht Regisseur Kevin Barz dezenten Optimismus in die Debatte | |
einzubringen, in Kooperation mit dem Oldenburger Forschungs- und | |
Entwicklungsinstitut für Informatik-Werkzeuge und -Systeme (Offis) wird da | |
für den Einsatz von Robotik, Mechatronik und [3][künstlicher Intelligenz] | |
plädiert | |
„Guten Morgen“, frohlockt eine Pflegerin aus den Lautsprechern. „Na, wie | |
isses?“ – „Noch müde?“ – „Ich mache mal das Licht an.“ – „Ic… | |
mal die Pillen.“ | |
Der leiernde, distanziert Nähe betonende Singsang des Heimpersonals wird | |
geremixt und unter zeitlupige Videos gelegt, die den Arbeitsalltag in | |
Oldenburger Pflegeheimen zeigen. Dazwischen geschnitten ist, wie sich vom | |
Leben schrundige Hände streicheln. Es sind Bilder mit eigentümlichen | |
Farbverschiebungen und Doppelbelichtungseffekten. | |
Dazu erklingt eine Mischung aus automatisiertem Glockenspiel und | |
Klöter-Perkussion: Auf 24 Lichtstäben ist jeweils ein Drumstick montiert, | |
der auf einen Klangstab schlagen kann, wodurch Notruf-Klingeltöne | |
entstehen. „Ele Meta Phone“ hat Komponist Daniel Dorsch sein | |
elektroakustisches Instrument getauft. Den natürlichen Klang des | |
rhythmisch-melodischen Spiels überwölbt er mit brummenden, summenden oder | |
wallenden Synthesizer-Sounds. | |
Bis die Videos zu fetten Beats pulsieren. Dann übernimmt ein von den | |
Pflegekräften gewünschter „helfender Arm“: der siebengelenkige | |
Industrieroboter „FP3“. Die Offis-Leihgabe ist Hauptdarsteller auf der | |
menschenleeren Bühne. Eingeblendet wird die Aussage einer Pfleger:in, sie | |
erfülle ihre Arbeit „wie ein Roboter“. Und da, so legt „Requiem.exe“ n… | |
könne doch gleich ein solcher eingesetzt werden. | |
Weil FP3 aber „sehr dumm ist“, wie Barz sagt, musste vorab minutiös | |
programmiert werden, wie er jetzt zu fröhlich blubbernder Musik | |
tänzerisch-elegant seine Fähigkeiten darbietet: Tabletten in Döschen | |
füllen, Möbel verrücken, putzen, Deo versprühen, auch einen Lappen | |
aufheben, nass machen und damit herumruckeln – also einen Menschen waschen. | |
Den kann FP3 auch in einen Rollstuhl heben oder auf die Toilette; die Zähne | |
putzen, Essen servieren und ihn füttern. Auch mit einer Plastikhand kann | |
der Roboterarm streicheln. | |
Das Objekt solcher Pflege muss aber wohl erst noch erfunden werden. | |
Jedenfalls stellt sich Barz während der Aufführung auf der Bühne eine | |
Menschenfigur her, per 3-D-Drucker, mit dem auch das | |
Pflegezimmer-Miniatur-Bühnenbild gefertigt wird. | |
Ganz bewusst wird so die Leerstelle Mensch betont. Die Performance sieht | |
super aus, klingt auch gut – aber für den Theatereinsatz reicht es nicht, | |
nur dezent kritisch einige Möglichkeiten anzudeuten, wie sich Pflegekräfte | |
entlasten lassen könnten. Es müssten auch Probleme, Gefahren und ethische | |
Fragestellungen benannt werden. Das aber unterbleibt, und so wirkt | |
„Requiem.exe“ am Ende wie eine FP3-Messepräsentation. | |
Es ist die letzte von acht Produktionen im [4][„Technical Ballroom“], der | |
von einer Videowall gezierten Raumbühne in der „Exhalle“ des Theaters. Um | |
die spartenübergreifenden Arbeiten kümmern sich Barz als künstlerischer | |
Leiter, je eine Regie- und Ausstattungsassistent:in sowie drei | |
Techniker:innen. | |
Die „Tagesschau“ haben sie hier schon als „Live-Deep-Fake“ mit positiven | |
Nachrichten inszeniert, Obdachlosigkeit im interaktiven Game-Format | |
behandelt, Klimawandel-Daten per Algorithmus in Musik überführen lassen, | |
Fotoausstellungen durch KI kuratieren lassen, solche Sachen. | |
Rund 3.500 Besucher:innen konnte Barz bisher begrüßen, „auch ganz | |
normale Abonnenten“. Er spricht von einer 75-prozentigen Auslastung und | |
insgesamt 15 Prozent mehr Zuschauer:innen, als die Schauspiele vor Corona | |
auf der heutigen Technical-Ballroom-Bühne angezogen hätten. | |
So viel Erfolg wird belohnt: Das Projekt geht weiter. Nach der Förderung | |
durch die Kulturstiftung des Bundes übernimmt das Staatstheater die | |
Finanzierung. Drei Premieren sind angekündigt. Zusammen mit den | |
Wiederaufnahmen der zuvor nur en suite gespielten Produktionen kann ab | |
Herbst ein richtiges Repertoire angeboten werden – an der Schnittstelle von | |
analogem Theater und digitaler Technik. | |
1 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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