| # taz.de -- Zurück zur Kindheit in Oldenburg: Erwachsener im Rückwärtsgang | |
| > Ermahnt die Eltern und bestärkt die Kinder: „Die große Entwunderung des | |
| > Wilbur Whittaker“ gerät in Oldenburg zu anregendem Familientheater. | |
| Bild: Auf dem Weg zum Kind: Wilbur Whittaker | |
| Oldenburg taz | Kindern können gar nicht früh genug davor gewarnt werden – | |
| davor, im Erwachsenenleben nicht zu verspießern. Sie sind also | |
| nachdrücklich zu animieren, die neugierige Haltung des Staunens, Fragens | |
| und Ahnens beizubehalten. | |
| Schon damit Erwachsene später nicht daran erinnert werden müssen, ihren | |
| vernünftig-tristen Alltag noch einmal aus der Perspektive der kindlichen | |
| Träume, Sehnsüchte und Vorstellungskraft zu überdenken. Und das gerade auch | |
| angesichts des rasenden Stillstands einer Gegenwart, deren Sinnressourcen | |
| nahezu aufgebraucht sind. | |
| Durch die ganze Welt gestreift ist die Suche von Matthias Grön, Leiter des | |
| „Jungen [1][Staatstheaters]“ in Oldenburg, nach einem passenden Stoff für | |
| diesen Themenkomplex. Fündig wurde er in Australien – und machte sich | |
| gleich selbst ans Übersetzen von Dan Giovannonis „Die große Entwunderung | |
| des Wilbur Whittaker“, uraufgeführt 2022 am Heath Ledger Theatre in Perth. | |
| Um dem moralischen Märchen noch mehr Gewicht zu verleihen, inszeniert es | |
| nun Ebru Tartıcı Borchers, die mit dem Intendantenwechsel zur nächsten | |
| Spielzeit fest ans Staatstheater kommt. | |
| ## Science-Fiction-Nostalgie-Spaß | |
| Für „Wilbur“ setzt die künftige Hausregisseurin auf | |
| [2][Stand-up-Comedy]-Gestus in temporeich-dichter Szenenfolge mit | |
| farbenprächtigem Lichtdesign und fantasievollen Kostümen. Der | |
| Science-Fiction-Nostalgie-Spaß der Vorlage und seine Möglichkeiten zu | |
| opulenten Theatereffekten werden nur angedeutet, wohl um möglichst wenig | |
| vom Handlungskern abzulenken: der Umkehr des Erwachsenwerdens. Allerdings | |
| gehen immer wieder üble Synthesizer-Plastikschlagersounds der 1980er-Jahre | |
| aufs Geschehen nieder. | |
| Der Titelheld stellt sich mit Biedermann-Anzug, -Scheitel, -Brille und | |
| -Schlips als 41-Jähriger vor. Aus einem aufgeweckten Hans-guck-in-die-Luft, | |
| der Weltraumreisen geplant und Bauanleitungen für einen Raketenrucksack | |
| entworfen hatte, ist kein Astrophysiker, Astronaut oder Flugzeugkapitän | |
| geworden, sondern nur ein Reisepassstempler am Flughafen. Die „dunkle Art | |
| von Leere“ in seinem Inneren ist ihm durchaus bewusst. | |
| Daheim in einer roten Kiste versteckt, schlummern weiterhin „die | |
| Wunderungen seines Herzens und seines Verstandes – all seine Hoffnungen und | |
| Wünsche, seine kostbaren Fundstücke, seine Kritzeleien von heute und Pläne | |
| für morgen“. Dem so lange schon Ungenutzten rücken bereits Recycling-Beamte | |
| auf den Pelz: „Sie verwerfen, wir verwerten“, erklären sie Wilbur – und | |
| entsorgen die Kiste. | |
| Traumblau sind die Szenen nun eingefärbt, Planetenkugeln werden enthüllt, | |
| und aus dem Königreich der Sterne gesellt sich Prinzessin Fantastic (Anna | |
| Seeberger) zu Wilbur (Konstantin Gries). Beide düsen durch Galaxien, um die | |
| Kindheitserinnerungen zurückholen. Denn ohne sie zerfällt Wilbur peu à peu, | |
| aber auch das Universum gerät aus dem Gleichgewicht. | |
| Die Abenteurer:innen begegnen auf ihrer Reise extraterrestrischen | |
| Figuren (mit feinem Humor verkörpert von Julia Friede und Matthias | |
| Kleinert) und auch einen noch im freien Fall durch Raum und Zeit die | |
| Mülleimer leerfutternden Fuchs: eine amüsante Puppenspieleinlage. | |
| In diesem Theater für Menschen ab neun Jahren gibt es auch Extra-Gags für | |
| die Älteren, etwa ein Shakespeare-Zitat, eine Anspielung auf Wilburs | |
| Krawattenfarbe („Deine Persönlichkeit ist braun?“) und seinen Versuch, | |
| nochmal kreativ zu sein, wobei ihm kaum mehr einfällt als die, Parkplätze | |
| müssten größer werden – wohl für SUV-Panzer. | |
| Das Ensemble tobt durchs Bühnenbild wie Kinder, geradezu überbordend | |
| agieren die Hauptfiguren: Mit Hauptdarsteller Gries ist es der Regisseurin | |
| aber nicht gelungen, eine Figur differenziert zu entwickeln, die in der | |
| Midlife-Crisis entdeckt, noch nicht am Ende des Wollens angelangt zu sein; | |
| einen Wilbur, der sich also wieder wundern, die Welt freudig hinterfragen | |
| möchte und mit neuer Daseins-Euphorie und alter Verspieltheit nochmal | |
| frisch loslegen. | |
| Autor Giovannoni schickt seinen Protagonisten auf den Weg der poetischen | |
| Verwandlung zur lebenslangen Jungenhaftigkeit. In Oldenburg hat er nur | |
| wenig von diesem Identifikationsangebot, bietet den Text vielmehr lauthals | |
| in rasend einförmigem Tonfall dar, ergänzt von einer zappeligen | |
| Körpersprache. Und wirkt dadurch eher wie die Parodie aufs Kind im Manne | |
| denn wie seine Ehrenrettung, die ja gleich auch noch die der ganzen Welt | |
| sein soll. | |
| So geht der [3][magische Realismus] unter mit seinem Ansatz, Wunder in | |
| allen und allem zu entdecken. Aber vielleicht ist das auch die legitime | |
| Infragestellung eines Textes, der schon mal mit Sinnsprüchen wuchert wie: | |
| „Manchmal ist der Weg, dem du folgen musst, der, von dem du es am wenigsten | |
| erwartest.“ | |
| Alles in allem erwächst aus der Kritik an der großen „Entwunderung“ der | |
| Erwachsenen aber eine Familienproduktion (empfohlen ab 9), geeignet für den | |
| anschließenden Austausch zwischen ermahnten Eltern und bestärkten Kindern: | |
| Um Lebenswege könnte es da etwa gehen, die noch so verbogen oder mehrfach | |
| geknickt sein können – nur bitte ihren Anfang nicht verleugnen. | |
| Nächste Vorstellungen: 3., 5., 9. + 11. 4., 10.30 Uhr; 6. 4., 16 Uhr, | |
| [4][Oldenburg, Exhalle] | |
| 31 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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