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# taz.de -- Zweiter Roman von Christian Baron: Bürgerlichkeit und Lumpenprolet…
> Der Schriftsteller Christian Baron erzählt in seinem Roman „Schön ist die
> Nacht“ atmosphärisch dicht aus einer untergehenden Schicht.
Bild: Im Roman „Schön ist die Nacht“ jubeln die Arbeiter noch dem selben V…
Gute Freunde kann niemand trennen. In dieser Schlager gewordenen
Beckenbauer-Weisheit steckt zugleich der Kern des Verhängnisses Willy
Wagners. Der ist seit einer nächtlichen Begegnung im ausgebombten
Untergangsdeutschland dem Tunichtgut und Kleinkriminellen Horst Baron
freundschaftlich verbunden. Doch Horst zieht Ärger wie magisch an,
[1][seine Fäuste sitzen locker wie die von Bud Spencer] und überhaupt ist
er nicht der richtige Umgang für einen beflissenen Arbeiter wie Willy.
In seinem Roman „Schön ist die Nacht“ wagt [2][Christian Baron] eine Art
Zwillingsexperiment. Was passiert, wenn man zwei Männer einer Generation
mit recht ähnlichen Voraussetzungen, aber unterschiedlichen moralischen
Ansprüchen, ein und derselben Situation aussetzt? Wird der eine erfolgreich
sein, muss der andere scheitern? Oder ist die Sache noch viel trauriger?
Schauplatz für die Verquickung der beiden Biografien ist das Kaiserslautern
der 70er. Willy ist korrekt und fleißig, während Horst sich durchwurstelt.
Horst ist der klassische Hallodri, im Grunde das, was Marx unter dem Label
„Lumpenproletariat“ für den Klassenkampf abqualifizierte.
## Kein Klassenbewusstsein
Aber auch Willy geht, bei allem Bemühen, das rechte Klassenbewusstsein ab:
Mit den „Gastarbeitern“ und ihren Anliegen will er nicht sympathisieren.
Von den internationalistisch-kommunistisch geprägten Vorstellungen der
Mutter ist er meilenweit entfernt. Jeder muss sehen, wo er bleibt.
Eigentlich will er nur ankommen, sich eine gute Existenz aufbauen. Selbst
als Polier müsste man doch einen Platz an der Sonne ergattern können. Auch
mit den Frauen läuft es nicht; und von ihren Kindern haben sich beide
Männer entfremdet – eher ein Glück angesichts des schlechten Einflusses,
den Horst auf seinen Ältesten hat.
Dass Horst den Nachnamen „Baron“ trägt und somit in die Genealogie des
Autors rückt, als ein Großvater etwa, verwischt nicht nur Grenzen zwischen
Roman und Wirklichkeit, sondern liefert auch eine Art imaginäre
Vorgeschichte zu [3][Barons Bestseller „Ein Mann seiner Klasse“].
In „Schön ist die Nacht“ erzählt Baron atmosphärisch dicht aus einer
untergehenden Schicht. Es ist die Ära Brandt/Schmidt, die
Wirtschaftswunderboomjahre sind vorüber. Die als Gastarbeiter angeworbenen
Türken, Italiener und Griechen hätten gern einen Teil des Kuchens oder
jedenfalls menschenwürdige Lebensbedingungen.
## Ölpreiskrise, schwächelnde Konjunktur
Gab es in den 60ern noch ein historisches Zeitfenster, das einen
bescheidenen Aufstieg der Arbeiterklasse und Bildungsexpansion versprach,
werden die Hoffnungen nun jäh zertrümmert. Ölpreiskrise, schwächelnde
Konjunktur – wer jetzt kein Haus hat, der baut sich keines mehr. Der Traum
von der wirtschaftlichen Teilhabe, vom bescheidenen Aufstieg mit dem Leben
im Eigenheim, in dem es gelingt, den Kindern eine gute Ausbildung zu
finanzieren – ausgeträumt.
Nun kann schon froh sein, wer seine Arbeit behält und nicht auf die Straße
gesetzt wird. Es ist eine Ära der fiskal- und finanzpolitischen Umbrüche,
der Beginn der Globalisierung, wie wir sie heute kennen, in dem Kapital
freizügig ist, die Arbeiter aber noch nicht.
Wiederholt wird im Roman die autochthone Qualität der Arbeiterleben
gezeigt: Man jubelt demselben Verein zu, dem schon die Väter zujubelten,
man ist dem Stadtteil verbunden, selbst wenn er als raues Pflaster gilt.
Und über die Grenzen der Stadt kommt man allenfalls für einen
Knastaufenthalt hinaus.
## Antihelden
Bei aller gefühlsmäßigen Aufladung wird die Arbeiterklasse nicht
sentimental verkitscht. Vielmehr erscheint sie als immer schon tragische,
weil ihre Angehörigen in wichtigen sozialen und emotionalen Funktionen
beschneidende Assoziation von Subjekten. Interessanterweise taugen beide
(Anti-)Helden nicht zur Identifikation, man kommt ihnen nicht nahe.
Das mag, trotz der Wahl eines personalen Erzählers, der genauestens über
die Gedanken der Figuren unterrichtet, an dem Zug ins Neusachliche und
Expressionistische liegen. Gerade aus dem Überschuss der Mitteilungen aus
dem Innenleben der Figuren ergibt sich der Eindruck, dass sie kein
emotionales Innenleben besitzen. Dass sie affekt-, aber nicht gefühlvoll
sind. Insbesondere Horst, dieser [4][Biberkopf 2.0 mit seiner Grob- und
Gefühlstaubheit, könnte ebenso einem 20er-Jahre-Milieu-Roman] entsprungen
sein.
So wirken Willy und Horst zeitlos und anachronistisch zugleich. Als Figuren
wie aus der Zeit gefallen, jedenfalls aus der Perspektive der Gegenwart,
als seien sie schon in ihrer erzählten Gegenwart Relikte einer entfernten
Vergangenheit, in der es so etwas wie Arbeiterstolz gab. Baron zeigt die
Männer, um es Neudeutsch zu fassen, im permanenten Zustand des Hustles. So
sind sie für sich und andere nur mehr die Verkörperung ihrer Rolle im
Produktionsprozess.
Es gibt es eine tragische Pointe in diesem melancholischen Roman: Dass
nämlich das, was im Roman Empathie mit den beiden Männern verhindert, auch
in der Realität, in der gelebten Arbeiterwirklichkeit, gesellschaftliches
Mitfühlen jäh unterbindet. Und dass die Freunde, von denen man sich nicht
trennen kann, zuletzt zum Verhängnis werden.
5 Aug 2022
## LINKS
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[3] /Debuetroman-von-Christian-Baron/!5656381
[4] /Burhan-Qurbani-ueber-Heimatlosigkeit/!5694528
## AUTOREN
Marlen Hobrack
## TAGS
Roman
Arbeiterklasse
70er
Freundschaft
Kleinkriminalität
1. FC Kaiserslautern
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Schwerpunkt Rassismus
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