# taz.de -- Burhan Qurbani über Heimatlosigkeit: „Die beiden verbindet das T… | |
> Regisseur Burhan Qurbani verwandelt „Berlin Alexanderplatz“ in eine | |
> postkoloniale Geschichte von strukturellen Machtunterschieden. | |
Bild: Mieze (Jella Haase) hält Franics B. (Welket Bungué) in ihren Armen | |
taz am wochenende: Herr Qurbani, Ihr Film [1][„Berlin Alexanderplatz“] | |
feierte nur wenige Tage nach dem rechten Anschlag in Hanau seine | |
[2][Premiere auf der Berlinale]. Der aufgrund von Corona verschobene | |
Kinostart fällt nun in eine Zeit, in der dank [3][Black Lives Matter wieder | |
vermehrt über Rassismus] gesprochen wird. Wie fühlt sich das Timing für Sie | |
an, nachdem Sie ja schon sieben Jahre an dem Film gearbeitet hatten? | |
Burhan Qurbani: Ich habe so ein blödes Déjà-vu-Gefühl. Weil es bei allen | |
drei Filmen bis jetzt so war: Als sie rauskamen, waren sie plötzlich so | |
zeitig. „Shahada“ ist praktisch mit dem [4][Buch von Sarrazin] | |
rausgekommen. In den Wochen der Premiere von „Wir sind jung. Wir sind | |
stark.“ hatten wir 40.000 Leute auf der Straße, weil Legida und Pegida | |
gerade abgingen. Es ist kein angenehmes Déjà-vu. Weil, man will die Filme | |
ja nicht machen, um an eine aktuellen Diskussion anzuschließen. Man will ja | |
eher eine Diskussion starten. | |
Es ist doch aber ein Gewinn für Sie, wenn sich das Publikum gerade mit | |
Black Lives Matter auseinandersetzt und in Ihrer Filmadaption des deutschen | |
Romanklassikers nun auf einen Schwarzen Franz Biberkopf trifft? | |
Ich denke, dass mein Film viel, viel genauer angeschaut wird, als es | |
vielleicht vor zwei Monaten noch der Fall gewesen wäre. Die Leute haben | |
sich ja inzwischen – hoffentlich – kritisch befasst mit Migration, mit | |
strukturellem Rassismus, haben sich eingelesen. Sie können den Film auf | |
eine ganz neue Art und Weise auseinandernehmen, die Diskussion kann | |
schärfer werden. Ich setze mich dem aus. | |
Ihr Protagonist Francis, gespielt von Welket Bungué, ist ein Geflüchteter | |
aus Guinea-Bissau, der in der Berliner Hasenheide mit Drogen dealt. Wie | |
viel von Franz Biberkopf aus Döblins Romanvorlage ist in Francis übrig | |
geblieben? | |
Viel. Vor allem das Trauma verbindet die beiden. Der eine kommt aus dem | |
Ersten Weltkrieg, der andere Mann ist Schwarz – was in dieser Welt leider | |
auch Traumatisierung bedeutet, zumindest in der westlichen – und heimatlos. | |
Beide sind in Berlin, sind aber nicht wirklich Teil von Berlin. Der weiße | |
Franz Biberkopf gehört zum Abschaum der Gesellschaft. Der Francis aus | |
meinem Film sitzt in einer illegalen Flüchtlingsunterkunft irgendwo am | |
Stadtrand. Sie haben beide diese Hybris, dass sie glauben, sie könnten in | |
die Mitte der Gesellschaft vorrücken. Und beide Figuren schaffen es | |
tatsächlich erst, wenn sie metaphorisch gestorben sind. | |
Mit der Figur Reinhold steht Francis ein sehr überzeichneter Bösewicht | |
gegenüber. Man hat den ganzen Film über das Gefühl, Francis, der immerzu | |
betont, dass er „gut sein“ will, wird allein durch Reinhold davon | |
abgehalten. Warum war Ihnen dieser größtmögliche Kontrast so wichtig? | |
Wenn man einen Film macht über einen Schwarzen Hauptdarsteller und einen | |
weißen Antagonisten, erzählt man ein bisschen mehr als nur ein | |
Gangsterdrama. Man erzählt eine postkoloniale Geschichte. Da geht es auch | |
um das Verhältnis von Weiß und Schwarz, von Erster und Dritter Welt, also | |
von strukturellen Machtunterschieden. Und Reinhold steht eben auch für die | |
Verführung der sogenannten Ersten Welt. Vom ersten Moment an lockt er die | |
Männer im Flüchtlingsheim mit dem Versprechen von westlichem Materialismus, | |
mit dem Fernseher, dem Auto, der Wohnung, der Frau – damit sie für ihn | |
arbeiten. | |
Später im Film übernimmt Francis diese Rolle, um in seiner ehemaligen | |
Unterkunft neue Dealer zu rekrutieren. | |
Genau, und dafür benutzt er andere Worte, seine eigene Perspektive, um die | |
Männer genauso in sein System reinzulocken. Er wird dann zu Reinholds | |
Vizekönig. Auch das ist eine koloniale Rolle, nach dem Prinzip „divide and | |
conquer“. Der Herrscher pickt sich irgendwen aus dem unterdrückten Volk | |
heraus und macht ihn zum Teil seines Systems, so dass er alle anderen | |
mitnehmen kann. | |
In diesem Kontext fand ich auch die Perspektive der Nebenfigur Eva sehr | |
interessant: Sie ist Schwarze Deutsche, viel privilegierter als Francis, | |
und hat einen viel kritischeren Blick auf den Rassismus der deutschen | |
Gesellschaft. | |
Der Monolog, den Eva in einer Bettszene mit Francis hält, ist das | |
Persönlichste, was von mir in diesem Film drin ist. Natürlich bin ich nicht | |
Schwarz, aber als Filmemacher versuche ich ein kollektives Unbewusstes zu | |
treffen, ein Gefühl zu finden dafür, was es heißt, fremd zu sein, an eine | |
Wand zu klopfen und einfach nicht reinzukommen. Und als Person of Color, | |
als Sohn von Geflüchteten ist mein persönliches Trauma in diesem Land, dass | |
ich die Sprache besser spreche als viele Deutsche, die Geschichte und die | |
Gesellschaft und den gesellschaftlichen Kontext mein Leben lang studiert | |
habe, und am Telefon total weiß klinge. Aber dass man über meinen Phänotyp | |
niemals hinwegsehen kann, dass er immer im Vordergrund steht, sobald ich in | |
einer persönlichen Begegnung bin. | |
In einer Szene ruft Francis einer Gruppe von jubelnden Geflüchteten zu: | |
„Ich bin Deutschland!“ In einer anderen Szene erklärt Berta, eine | |
Transperson, feierlich: „Wir sind die Neuen Deutschen.“ Ich muss sagen, ich | |
hatte gemischte Gefühle an diesen Stellen. | |
Warum? | |
Auf der einen Seite schätze ich sie, weil sie den größten Albtraum der AfD | |
spiegeln. Gleichzeitig frage ich mich: Wird hier Nationalismus positiv | |
besetzt? | |
Ich würde lieber von Patriotismus sprechen. Ich finde es spannend, wie das | |
Wort in Deutschland unendlich übel besetzt ist. Man kann es kaum in den | |
Mund nehmen. Und wenn es in den Mund genommen wird, dann nur von Rechten | |
wie Björn Höcke. | |
Es gibt gute Gründe, warum Patriotismus in Deutschland verpönt ist. | |
Klar, aber gleichzeitig ist es ein extrem machtvolles Wort. Du kannst damit | |
unglaublich viel in den Leuten bewegen, im Guten wie im Schlechten. Für | |
mich heißt Patriotismus, sich ehrlich auseinanderzusetzen mit der | |
Geschichte dieses Landes, mit den Schattenseiten und mit dem, was danach | |
passierte. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen und zu | |
verteidigen ist die Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Und da darf ich | |
total sagen, ich bin Verfassungspatriot. Ich darf denen das Wort wegnehmen. | |
Wozu brauchen Sie dieses Wort? | |
Ich bin im Kopf noch nicht so weit, dass ich sagen kann: keine Grenzen, | |
keine Nation. Dafür bin ich entweder zu alt oder zu unflexibel. Schließlich | |
lebe ich in einer Welt, in der Grenzen einfach eine Realität sind. Und | |
solange es kein besseres Konzept gibt, muss ich versuchen, an dem Ideal | |
festzuhalten, von dem, was eine Nation sein kann, und das ist für mich | |
eine, die versucht, die Würde des Menschen höher zu stellen als alle | |
anderen Belange. | |
Aber Sie zeichnen doch mit der Entwicklung von Francis exemplarisch nach, | |
wie Geflüchtete strukturell in die Illegalität gedrängt werden. Dass | |
Artikel 1 eben in der Realität nicht für alle Menschen gilt. Kann es sein, | |
dass Ihr Film radikaler ist als Sie selbst? | |
Der Film ist Hypothese, ich werde dem Publikum niemals meine Haltung | |
aufdrücken. Es ist okay, wenn der Film radikaler ist als ich. Und natürlich | |
ist das Grundgesetz nicht gelebte Realität. Aber ohne seinen Anspruch sind | |
wir nichts. Deshalb lautet die ultimative Forderung: Ich bin Deutschland, | |
ich bin hier. Ich bin gekommen, um zu bleiben. | |
11 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=aiLwKbFIMnU | |
[2] /Neuverfilmung-Berlin-Alexanderplatz/!5664365 | |
[3] /Black-Lives-Matter-Debatte/!5693764 | |
[4] /Neues-Buch-von-Thilo-Sarrazin/!5136870 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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