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# taz.de -- „Schlafen“ von Theresia Enzensberger: Die Schlaflosigkeitsveter…
> Über ihre eigenen schlaflosen Nächte und wie Schlaf und Kapitalismus
> zusammenhängen schreibt Theresia Enzensberger in einem neuen Essay.
Bild: Schlafprobleme können quälen
Es gibt zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die schlafen können, und
diejenigen, die es nicht können, schreibt die französische Schriftstellerin
Marie Darrieussecq in ihrem Buch „Sleepless“. [1][Theresia Enzensberger]
gehört zur zweiten Kategorie. Sie hat ein Buch über ihre Schlaflosigkeit
geschrieben, das als Teil einer neuen Reihe bei Hanser erscheint, in der
sich Autor*innen wie Elke Heidenreich oder [2][Daniel Schreiber] mit den
„zehn wichtigsten Themen des Lebens“ auseinandersetzen.
Theresia Enzensberger hat Phasen, in denen sie gut schlafen kann, denen
unweigerlich eine insomnische Phase folgt. In diesen Nächten wird sie von
der Frage gejagt: „Was, wenn ich nie wieder schlafen kann?“ Sie ist zur
„Schlaflosigkeitsveteranin“ geworden, ohne auf den Wecker zu schauen, weiß
sie durch nächtelanges Trainieren der inneren Uhr genau, wie viel Zeit im
Dunkeln vergangen ist. Sie weiß, dass der zweite Tag ohne Schlaf problemlos
zu überstehen ist, während an Tag vier nichts mehr geht.
Die Kapitel sind nach den einzelnen Schlafphasen benannt und variieren in
Form und Länge entsprechend. Das kurze Einstiegskapitel gilt der
Einschlafphase, ein anderer, politischer Essay dem leichten Schlaf – der
Phase, in der Zähneknirschen auftritt –, zum Tiefschlaf lässt sie
assoziativ die Gedanken über den Schlaf in Kunst und Popkultur schweifen
und endet mit einer ins Unheimliche abgleitende Kurzgeschichte im
Traumschlaf.
Während der Stil zu Beginn noch an eine wissenschaftliche Arbeit erinnert,
wird er immer persönlicher und fragmentarischer.
## Von der Norm abweichen
[3][Im Kapitalismus, so Enzensberger, wird der Schlaf widersprüchlich
bewertet.] Einerseits kann aus ihm kein Profit geschlagen werden: Wer
schläft, kann in dieser Zeit nicht arbeiten. Andererseits braucht der
Mensch eine gewisse Menge Schlaf, um seine Arbeitskraft zu regenerieren.
Da bleibt nur die Möglichkeit, den Schlaf so weit es geht zu normieren
(sechs bis acht Stunden in der Nacht, ohne Unterbrechung) und jede
Abweichung davon abzuwerten, ja sogar als krankhaft abzustempeln. Die
Schlafgewohnheiten sind moralisch aufgeladen: „Wer zu lang oder am
Nachmittag schläft, gilt als faul und dekadent; auszuschlafen ist ein
unerhörter Luxus, den man sich erarbeiten muss.“
Aus der Pathologisierung der Normabweichung hat sich ein neuer Markt
gebildet: von Meditations-Apps bis zu Gewichtsdecken – der Schlaf muss
optimiert werden. So wird dem Individuum die Verantwortung für die eigene
Schlafqualität und die Schuld bei einer Schlafstörung zugeschoben. Schlaf
wird, wie Krankheit, als Schwäche stigmatisiert und ab einer gewissen Dauer
als Folge mangelnder Disziplin angesehen.
Das kann etwas Subversives haben: Enzensberger zitiert die Philosophin Eva
von Redecker, die den Schlaf, der nicht der Reproduktion der Arbeitskraft
dient, als Ausdruck „erfüllter, herrschaftsloser Zeit“ sieht.
## Insomnie überall
Wenn man einmal anfängt, in der Literatur nach Schlaflosigkeit zu suchen,
findet man sie überall, als wäre Insomnie die Berufskrankheit der
Schriftsteller*innen. In zeitgenössischen Berichten über Insomnie
beobachtet Enzensberger eine literarische Dramaturgie: eine Heldin, die auf
Widrigkeiten stößt und eine innere Entwicklung durchmacht, die schließlich
dazu führt, dass sie ihre Schlaflosigkeit überwindet.
Damit könne sie nicht dienen, schreibt Enzensberger. Ihr Buch bietet weder
eine Lösung noch ein Happy End. Das macht das Buch vor allem angenehm
ehrlich.
Theresia Enzensberger ist, wenn überhaupt, eine realistische Heldin: Sie
verzichtet erst ab 17 Uhr auf Kaffee und schafft es nicht immer, vor dem
Schlafengehen ihr Handy wegzulegen, wie es in Ratgebern dringend empfohlen
wird. Wer sich in der aktuellen Gegenwartsliteratur umsieht, kann eine
Fülle von Schlafproblemen entdecken. Ob Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr
der Ruhe und Entspannung“, in dem sich eine Frau entscheidet, mithilfe von
Tabletten ein Jahr lang durchzuschlafen, oder Samantha Harveys Memoir „Das
Jahr ohne Schlaf“, in dem sie autobiografisch ihre eigene Schlaflosigkeit
verarbeitet.
Enzensbergers Buch lässt sich in kein Genre pressen, es ist weder
wissenschaftlicher Text noch Selbsthilfebuch oder reines Memoir. Vielmehr
ist es eine Sammlung von Gedanken, Studien und Erfahrungen, die zwar
niemandem zum Schlaf verhilft, aber immerhin dafür sorgen kann, dass die
Lesenden sich in schlaflosen Nächten weniger allein fühlen.
1 Jul 2024
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## AUTOREN
Emma Rotermund
## TAGS
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