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# taz.de -- Sammelband zum Thema Abtreibung: Texte gegen die Stigmatisierung
> Vielstimmig und empathisch nähert sich der Band „Glückwunsch“ dem Thema
> Abtreibung – ohne dabei die Komplexität zu vernachlässigen.
Bild: Protest gegen Abtreibungsparagrafen vorm Landgericht Gießen beim Prozess…
Charlie ist schwanger. Für die Abtreibung fährt sie in ihr Heimatdorf. „Na,
Kondom geplatzt? Passiert“, sagt ihr Gynäkologe nur. Ihre Freundin Kessi
begleitet sie, bei ihr kann sie sich nach dem Eingriff ausruhen. In
Rückblenden erinnert sich Charlie, wie sie selbst wiederum einige Jahre
zuvor eine Freundin bei ihrem Abbruch begleitet hatte.
Von Freundinnenschaft erzählt der Text, von Überforderung aufgrund des
Mangels an Informationen – und von der Selbstverständlichkeit der
Entscheidung für die Abtreibung. „Glückwunsch, Sie sind nicht mehr
schwanger“, verkündet die Anästhesistin am Ende von Stefanie de Velascos
Erzählung, einer von 15 [1][in einer unlängst erschienen thematischen
Anthologie], die nun auch in Hamburg vorgestellt wird.
Irritierend, zumindest auf den ersten Blick, ist ihr Titel: „Glückwunsch!“
wird doch eher dann gesagt, wenn eine Frau verkündet, sie sei schwanger.
Dass aber der Abbruch einer Schwangerschaft ebenso große Freude und
Erleichterung bedeuten kann: Das wollen die Texte deutlich machen.
Das Buch erscheint in einer Zeit, da der Zugang zu
Schwangerschaftsabbrüchen wieder stärker öffentlich diskutiert wird; es
kann als Intervention in die gesellschaftliche Debatte gelesen werden.
Während Deutschland im vergangenen Jahr den Zugang zu Informationen über
Schwangerschaftsabbrüche erleichtert hat, wird die Möglichkeit der
Abtreibung in anderen Teilen der Welt weiter eingeschränkt oder gleich ganz
abgeschafft. Aber auch hierzulande ist die Regelung fragil: Nach wie vor
sind Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch geregelt – sie sind
straffrei nur unter bestimmten Bedingungen.
Wie leicht dieser Zustand in ein komplettes Verbot kippen kann, macht
[2][Theresia Enzensberger] in ihrer Erzählung deutlich: Ihre Protagonistin
Maria arbeitet als moderne „Engelmacherin“ in einer nicht näher bestimmten
Zukunft. „Alles, was es brauchte, war eine Abschaffung der
Beratungsregelung, die in der frühen Schwangerschaft bisher eine Ausnahme
geschaffen hatte“, heißt es da; kurz darauf verblutet eine von Marias
Patientinnen beinahe auf ihrer Couch. Die drastische Schilderung
verdeutlicht, was unsichere Abtreibungen für Frauen bedeuten können.
Mit ihrer Anthologie wenden sich die Herausgeberinnen [3][Charlotte Gneuß]
und [4][Laura Dshamilja Weber] gegen die Stigmatisierung von Abtreibungen –
aber auch gegen die Schwierigkeit, darüber zu sprechen. Literarisch lasse
sich versprachlichen, was gesellschaftlich (noch) nicht möglich sei,
schreiben sie im Vorwort.
Zuletzt erlangte die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux mit ihrem
[5][autofiktionalen Roman „Das Ereignis“] viel Aufmerksamkeit. Darin
schreibt sie über ihre Abtreibung in den 1960er Jahren, an der sie beinahe
gestorben wäre. Daneben gibt es nicht viele Beispiele literarischer
Verhandlungen von Abtreibungen, insbesondere solche, die das
Selbstbestimmungsrecht der Frauen in den Mittelpunkt stellen.
Die an der Anthologie beteiligten Autor*innen nähern sich dem Thema auf
unterschiedliche Weise, beschreiben vielfältige Erfahrungen. Ihre
Protagonist*innen leben in vergangenen und zukünftigen Jahrhunderten,
im Irak, der DDR oder dem wiedervereinigten Deutschland. Einige sind
traurig über den Abbruch, andere klar entschieden und erleichtert. Egal
unter welchen Umständen die Abtreibung stattfindet und wie sie erlebt wird:
Die Erzählungen verdeutlichen die Alltäglichkeit ungewollter
Schwangerschaften und die Notwendigkeit, eigenständig über deren Abbruch zu
bestimmen.
Die fiktionale Form ermöglicht es, unterschiedliche Kontexte und Emotionen
abzubilden. Dabei eröffnen sich auch utopische Perspektiven, die einen
anderen Umgang mit Abtreibung denkbar werden lassen. So fährt [6][Yael
Inokais] Protagonistin Romy mit dem Elektroauto durch die Stadt und liefert
Staubsauger-ähnliche Maschinen aus, mit denen die Kund*innen zu Hause
abtreiben können.
Auch gelingt es dem Buch, Erfahrungen sichtbar zu machen, die im
politischen Kampf um Abtreibung bislang vielfach unterrepräsentiert
bleiben: „Kinder? Ja, nein – vielleicht? Wer darf sich diese Frage
stellen?“, schreibt Jayrôme C. Robinet in seiner Erzählung. In Form eines
Briefs an seine Mutter umkreist der Protagonist die eigene
Abtreibungserfahrung, die Benachteiligung von trans Menschen im
Gesundheitswesen sowie überhaupt Rassismus und Klassismus in der
Abtreibungsdebatte. Indem sie auch Texte von Autoren aufnehmen, wenden sich
die Herausgeberinnen gegen die Auffassung, Abtreibungen seien ein
„Frauenthema“. Leider bleiben gerade die Protagonist*innen der Männer
eher holzschnittartig.
Der Versuch, eine Sprache zu finden für das, was gesellschaftlich
tabuisiert ist, resultiert in vielfältigen Erzählformen, die neugierig
machen auf jede einzelne Erzählung: Neben Kurzgeschichten, Briefen und
Protokollen finden sich Texte jenseits klassischer Erzählformen. Raphaëlle
Reds Text ist eine assoziative Folge von Sätzen, die die Gemeinsamkeit der
Erfahrung über Generationen, Klassen und Grenzen hinweg verdeutlicht: „Die
Ladies trinken Sangria in Magaluf. Die Ladies sagen: Hex Hex. Die Ladies
trinken Brennnesseltee. Die Ladies finden es ziemlich retro, Abtreibungen
verteidigen zu müssen.“
Für einen sicheren und niedrigschwelligen Zugang zum Abbruch werben alle
Beiträge des Bandes. Mit ihrer Anthologie ist es den Herausgeberinnen
gelungen, einen empathischen Umgang mit Abtreibungen darzustellen, ohne
deswegen die Komplexität des Themas zu vernachlässigen.
7 Mar 2023
## LINKS
[1] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/glueckwunsch/978-3-446-27677-2/
[2] /Neuer-Roman-von-Theresia-Enzensberger/!5874574
[3] /Theater-trotz-Corona/!5679392
[4] https://www.litaffin.de/laura-dshamilja-weber/
[5] /Annie-Ernaux-Familienleben-im-Film/!5901571
[6] /!5892317/
## AUTOREN
Josephine von der Haar
## TAGS
Schwerpunkt Abtreibung
Sammelband
Essay
Schwerpunkt Paragraf 219a
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Frauenpolitik
Paragraf 218
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