# taz.de -- Aufwachen mit Nachrichten: Die Teufelsaugen des Radioweckers | |
> Unser Autor ist gestresst vom aggressiven Weckton des Smartphones und | |
> probiert es mit dem Radiowecker. Leider. | |
Bild: Guten Morgen! | |
Didididi, DIDIDIDI! Es ist kurz nach 7 Uhr, als ich von meinem Smartphone | |
aufgescheucht werde. Nach der ersten Panik, die der aggressive, | |
unmenschliche Weckton auslöst, fange ich mich wieder. Ich kenne das | |
schließlich schon. Mein verkrampfter Körper löst sich. Ich freue mich, dass | |
ich noch lebe, mal wieder, und bleibe noch etwas liegen. Die Sonne strahlt | |
mir ins Gesicht, im Bett lasse ich mich gerne von ihr blenden. Nur hier | |
habe ich meine Ruhe vor den Zumutungen des Lebens, nur hier kann ich sein, | |
wer ich bin. Aber wie gut kann ein Tag beginnen, wenn er mit dem Gefühl | |
beginnt, dass das Ende gekommen ist? So kann es doch nicht weitergehen!, | |
beschließe ich und hole den alten Radiowecker aus dem Keller. | |
Ich stecke das Kabel in die Steckdose und die roten Ziffern des | |
Radioweckers leuchten auf. Kurz sehen sie aus wie Teufelsaugen, aber ich | |
glaube, das bilde ich mir nur ein. Stimmen, die aus dem Gerät kommen, | |
kämpfen gegen ein Rauschen an. | |
Weil ich nur noch mit Touchscreens umgehen kann, fordert mich das alte | |
Teil. Ich drücke erst einen Knopf, dann einen anderen, dann drücke ich | |
verzweifelt alle nacheinander. Oder muss man alle gleichzeitig drücken? | |
Doch mit großer Geduld und angetrieben von der Aussicht auf einen besseren | |
Start in den Tag und damit ein besseres Leben befreie ich die Stimmen vom | |
Rauschen. Dann stelle ich die Uhrzeit und den Wecker ein. | |
Voller Vorfreude lege ich mich ins Bett und blicke auf mein Werk. Wie | |
anmutig und stolz der schöne alte Radiowecker doch auf meinem Nachttisch | |
steht! Schlicht, funktional und verlässlich, wie er erscheint, gibt er mir | |
ein längst verloren geglaubtes Gefühl von Sicherheit zurück. Ich beobachte, | |
wie sich die Ziffern der guten, alten Segmentanzeige mit den Minuten | |
verändern. Warum sollte dieses Leben nicht bewältigbar sein?, denke ich, | |
als mir die Augen zufallen. | |
7 Uhr, die Nachrichten, zunächst die Übersicht, | |
sagt plötzlich eine Stimme, | |
bei einem mutmaßlich islamistischen Anschlag [1][tötet ein Syrer drei | |
Menschen und verletzt acht], | |
der Anführer der Opposition fordert, keine Geflüchteten aus Afghanistan und | |
Syrien mehr aufzunehmen, | |
die Bundesregierung beschließt Asylverschärfungen, | |
die Opposition [2][kritisiert diese Maßnahmen als unzureichend], | |
Deutschland [3][schiebt wieder nach Afghanistan ab], zum ersten Mal seitdem | |
die Taliban an der Macht sind, | |
zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik [4][gewinnt eine | |
rechtsextreme Partei eine Wahl], sie wird stärkste Kraft in Thüringen, | |
in München schießt ein weiterer mutmaßlich islamistischer Attentäter in der | |
Nähe des israelischen Generalkonsulats und des NS-Dokumentationszentrums | |
auf Polizisten und wird von diesen erschossen, | |
auch in Brandenburg wählen die Bürger in wenigen Tagen einen neuen Landtag, | |
auch hier ist die rechtsextreme Partei in aktuellen Umfragen stärkste Kraft | |
… | |
Okay, jetzt ist es echt so weit!, denke ich. Dieses Mal geht die Panik | |
nicht von allein weg. Ich brauche eine kalte Dusche und ein paar Minuten | |
länger, bis ich mich zurück ins Schlafzimmer traue. Ich ziehe den Stecker, | |
die Teufelsaugen erlöschen. Dann höre ich einen Ton, der nicht schön, aber | |
vertraut ist. Große Erleichterung. Es ist der zweite Wecker, der, den ich | |
auf dem Smartphone gestellt habe. Didididi, DIDIDIDI! | |
11 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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