# taz.de -- Immer mit der Ruhe: Lob des Mittagsschlafs | |
> Frühjahrsmüde? Ein Nickerchen verändert nicht die Welt, aber den Rest des | |
> Tages. Und: Es ist ein emanzipatorischer Akt. | |
Bild: Im privaten Paralleluniversum: Nickerchen an der Lübecker Bucht | |
Berlin taz | Die schönste Würdigung des Mittagsschlafs stammt von | |
[1][Pieter Bruegel] dem Älteren: 1567 schuf der Renaissancemaler sein | |
Gemälde „[2][Das Schlaraffenland]“. Das Ölbild, heute im Besitz der Alten | |
Pinakothek in München, zeigt Ritter, Gelehrte und Bauern – alle scheinen | |
sie ordentlich geschlemmt zu haben. | |
Rund um sie sind zahlreiche mehr oder weniger realistische Lebensmittel | |
angeordnet. So hängt das Dach einer Hütte voller Pfannkuchen, zu sehen ist | |
weiterhin ein Ferkel, an das bereits ein Tranchiermesser geschnallt ist. | |
Jetzt liegen die drei aber erst einmal mit dicken Wänsten auf dem Boden. | |
Einer zwinkert noch müde in den Himmel, die anderen sind bereits | |
hinübergeglitten in einen süßen Schlaf. | |
Nun ist unser Alltag in den seltensten Fällen mit dem Leben im | |
Schlaraffenland vergleichbar. Doch wer regelmäßig Mittagsschlaf hält, weiß, | |
dass Bruegels Bild eine gewisse Realitätsnähe besitzt. Das Nickerchen am | |
Nachmittag dient nicht nur der Verdauung. Es transportiert eine:n für eine | |
Zeitspanne, die allein durch persönliche Vorlieben abgesteckt ist, in ein | |
sehr privates Paralleluniversum. „Der Mittagsschlaf ist eine Inbesitznahme | |
der eigenen Zeit, die sich dem ‚Controlling‘ entzieht. Die Siesta ist | |
emanzipatorisch“, erklärt der französische Philosoph Thierry Paquot in | |
seinem empfehlenswerten Essay „Die Kunst des Mittagsschlafes“. | |
Einige Vorkehrungen sind zu treffen, um sich in diesem wohlzufühlen: Im | |
Idealfall ist das Bett frisch gemacht, zwingend nötig ist es, das Telefon | |
auszuschalten, von der Berieselung durch Musik ist abzuraten. Was hingegen | |
nicht schadet, ist Licht. Im Gegenteil, ein paar Sonnenstrahlen, die durch | |
einen Gardinenspalt fallen, machen den Mittagsschlaf erst so richtig schön. | |
## Sorgen nur noch im Rückspiegel | |
Man gleitet dann in einen Zustand, der ein entfernter Verwandter des | |
nächtlichen Schlafes ist: Warme Gedanken strömen durch den Körper, die eine | |
oder andere gute Idee taucht auf und wieder ab, die Muskeln entspannen | |
sich. Kein Text will geschrieben, kein Acker bestellt werden. Das Aufwachen | |
ist schließlich ein kleiner Morgen. Egal welche Sorgen den Vormittag | |
prägten, sie sind jetzt nur noch im Rückspiegel zu erahnen. | |
Das Nickerchen ist in den letzten Jahren immer mal wieder zum Gegenstand | |
des öffentlichen Diskurses geworden, wenngleich in anderen Zusammenhängen: | |
Es soll heute nicht mehr dem Wohlbefinden dienen, sondern der Mobilmachung | |
für einen emsigen Nachmittag. Große US-Firmen wie Google, Ben & Jerrys oder | |
Nike erlauben ihren Angestellten, in den Betriebsräumen die Augen zu | |
schließen. | |
Beim Gelsenkirchener Heizungsunternehmen Vaillant stehen den Mitarbeitenden | |
sogar Ruheräume mit gepolsterten Liegen zur Verfügung. Ein freundlicher | |
Zug, aber: Von großem Vorteil ist beim Mittagsschlaf das Privileg des | |
eigenen Bettes – und die Einsamkeit. Die erwünschte Gelassenheit lässt sich | |
kaum erreichen, wenn keine zwei Meter entfernt die Person liegt, die schon | |
im Morgenmeeting genervt hat. | |
Die Studienlage zum Mittagsschlaf ist widersprüchlich. 2007 ergab eine | |
Studie in Griechenland: Er senkt das Risiko für Herzinfarkt und | |
Schlaganfall um 40 Prozent. [3][Britische Wissenschaftler:innen] | |
attestierten passionierten Mittagsschläfer:innen sogar ein größeres | |
Gehirnvolumen. 2021 stellte die chinesische Guangzhou Medical University | |
hingegen fest: Ein ausgedehnter Mittagsschlaf kann das Risiko für | |
Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen und die Lebensdauer verkürzen. Was in | |
der Berichterstattung bisweilen unterschlagen wurde: Hier ging es nicht um | |
das kleine Nickerchen, sondern um Schlaf, der eine Stunde überdauerte. | |
Es stimmt schon: Ganz selten verpasst man auch mit sehr viel | |
Mittagsschlaferfahrung den richtigen Moment. Dann wird aus der kleinen | |
Pause eine große, vergeht die erste, die zweite, vielleicht sogar die | |
dritte Schlafstunde. Wacht man schließlich doch noch auf, weiß man weder um | |
Ort noch Zeit noch den eigenen Namen. Der einzige Trick, der hilft: sich | |
dem Schicksal fügen. Umdrehen. Einfach weiterschlafen. Und das Ganze als | |
emanzipatorisch begreifen. | |
24 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Grosse-Bruegel-Ausstellung-in-Wien/!5540891 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Schlaraffenland | |
[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37344293/ | |
## AUTOREN | |
Jochen Overbeck | |
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