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# taz.de -- Neuer Roman von Dörte Hansen: Hinter dem Walknochenzaun
> An der Nordsee spielt Dörte Hansens Roman „Zur See“. Er porträtiert eine
> Familie alten Inseladels und verabschiedet wehmütig die gute alte Zeit.
Bild: Mäh. Schafe auf dem Deich einer Nordseeinsel
Wenn das Leben sich überall ändert, so ändert es sich auf einer Insel wohl
etwas langsamer, aber doch eben auch. Eine namenloses Nordsee-Eiland ist
der Schauplatz des neuen Romans von Dörte Hansen. Hier leben die fünf
Mitglieder der Familie Sander. „Alter Inseladel“ sind die Sanders. Sie
haben seit Generationen auf der Insel gelebt, und ihr altes Haus hinter
einem traditionellen Zaun aus Walknochen ist das schönste weit und breit.
Aber hinter der Kalenderblattidylle ist längst nicht alles in Ordnung.
Vor zwanzig Jahren hat Jens Sander, einst als Kapitän auf dem Meer
unterwegs, die Familie verlassen, um sich als Vogelwart auf einer
abgelegenen Düne zu verschanzen. Hanne, seine Frau, richtet immer noch die
Betten in ihren altmodischen Fremdenzimmern her, in denen niemand mehr
schläft, weil die heutigen Badegäste die Bequemlichkeit moderner
Apartmenthotels vorziehen.
Die drei längst erwachsenen Kinder haben eigene Probleme; und am meisten
leidet, so scheint es, der älteste Sohn, Ryckmer. Gelernter Kapitän ist
auch er, kann aber, nachdem sein Schiff beinahe von einer Riesenwelle
verschluckt worden wäre, nicht mehr zur See fahren und braucht schon zum
Frühstück ein Bier.
Tochter Eske, tätowiert wie ein Seemann, arbeitet als Altenpflegerin, hält
sich mit Heavy Metal lebendig und leidet darunter, eine Inselgeneration
nach der anderen sterben zu sehen. Henrik, der Jüngste der Geschwister,
verdient im Sommer als Bademeister Geld und baut ansonsten Skulpturen aus
Strandgut. („Seltsame Geschöpfe“, findet seine Schwester, „Vogelscheuche…
denkt seine Mutter.) Als Künstler ist er inzwischen ein „gemachter Mann“,
wie es an einer Stelle heißt.
## Aufs Festland gezogen
Abwechselnd erzählt der Roman aus dem Leben aller Familienmitglieder,
dazwischen auch von den Nöten des Pastors, dessen Frau aufs Festland
gezogen ist und den Gatten nur noch an Wochenenden besucht. Und auch mit
seinem Gottesglauben hat Pastor Lehmann Schwierigkeiten …
Jede einzelne Romanperson trägt ihre Sorgen und Nöte allein mit sich herum.
Warum gerade der scheinbar so selbstgenügsame Henrik der Einzige ist,
dessen Perspektive der Roman niemals einnimmt, über dessen potenzielle
Sorgen und Nöte wir also rein nichts erfahren, wird erst zum Schluss
offenbar. Henrik muss für diesen Roman ein Rätsel bleiben.
Dörte Hansen kann Charaktere. Obwohl ihr Romanpersonal, einerseits, ein
bisschen wie aus einem Typenkatalog entnommen wirkt, wenn man seine
Eigenschaften kurz skizziert, haben doch andererseits alle Personen so viel
Eigenleben, dass hinter der Erzähloberfläche eine Tiefe erahnbar wird, die
nur angedeutet wird.
## Das Leben ist im Wandel
Aber „Zur See“ ist gar nicht in erster Linie ein Roman über die Menschen,
von denen er erzählt, sondern über das Leben, das sie repräsentieren. Ein
Roman über das Leben auf einer Insel, die nie wieder so sein wird wie
früher: Keine Seemannsfrauen stehen mehr sehnsüchtig am Kai, [1][auf die
Rückkehr ihrer Männer wartend]. Keine Walfänger wohnen mehr in den
Walfängerhäusern, sondern wohlhabende Zweithausbesitzer aus der Stadt.
[2][Einstige Krabbenfischer] ziehen sich gestreifte Fischerhemden an, um
Ausflugsboote zu betreiben.
Die Romanfiguren sind gleichsam gefangen in einem Als-ob-Zwischenreich. Das
Leben so zu leben wie früher üblich ist unmöglich geworden. Aber wie soll
man denn dann auf dieser Insel leben? Das ist noch nicht klar umrissen. Das
Leben ist im Wandel begriffen.
Aber kann dieser Wandel eigentlich nur schlecht sein? Bei allem Respekt für
die Fähigkeit der Autorin, Charaktere und Atmosphäre zu gestalten, nervt
doch nach einer Weile der implizite Lamentobass, der den gesamten Roman
durchzieht. Mit seiner tief eingeschriebenen Wehmut und seinem
Kulturpessimismus ist „Zur See“ ein entschieden einseitiger und daher
leider nicht völlig unkitschiger Abgesang auf die (guten?!) alten Zeiten,
in denen das Leben auf der Insel hart war, aber jeder Mensch seinen Platz
hatte.
## Die Plagen des 21. Jahrhunderts
Und heute? Wird das Inselleben dominiert von Wochenendbesuchern,
Sommerhausbesitzerinnen und Surfern, die im Roman nur als Störelemente
auftauchen. Dass heutiges Inselleben nur deshalb überhaupt noch möglich
ist, weil es den Tourismus gibt, ist eine sicherlich bittere Wahrheit.
Aber was die Änderung der Lebensgrundlagen betrifft, ist keine Insel eine
Insel. Auch anderswo haben Menschen mit überhöhten Mieten, Overtourism und
den anderen Plagen des 21. Jahrhunderts zu kämpfen. Die Sanders haben es
nur noch nicht bemerkt.
12 Nov 2022
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## AUTOREN
Katharina Granzin
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