# taz.de -- Neuer Roman von Sabrina Janesch: Eine ernsthaft bedrohliche Welt | |
> Von familiären Traumata erzählt Sabrina Janeschs Roman „Sibir“. Es geht | |
> darum, die Erwachsenenwelt genau zu entschlüsseln. | |
Bild: Bloß kein Blick zurück: Ankunft einer Aussiedlerfamilie im Durchgangsla… | |
Der größte Teil dieses Romans spielt in einer Siedlung am Rande der | |
fiktiven Kleinstadt Mühlheide. Als Handlungsort ist der Stadtrand weit mehr | |
als nur eine geografische Markierung. Er ist zugleich gesellschaftliche | |
Lagebeschreibung der Menschen, die dort wohnen: zugehörig zur Stadt und zum | |
Land, aber doch in notorischer Randlage. | |
Ein Gefühl der Unbehaustheit bestimmt seine BewohnerInnen; ein Gefühl, das | |
so tief sitzt, dass selbst ihre im bundesrepublikanischen Wohlstand | |
geborenen Kinder es wohl irgendwie geerbt haben. Denn dass Leila, das | |
Kindheits-Ich der Erzählerin, und ihr bester Freund Arnold ihre Freizeit | |
damit verbringen, geheime Vorratslager anzulegen und geheime Hütten | |
bewohnbar zu machen, geht in der Besessenheit, mit der sie diese | |
Vorsorgetätigkeit betreiben, weit über normales Kinderspiel hinaus. | |
Auch die Gegenstände, die sie horten, sprechen Bände; denn außer | |
Süßigkeiten und Limonade haben die Kinder auch den alten Revolver von | |
Leilas Vater in ein Versteck geschafft. Bald folgt ein Beutel mit Zahngold, | |
geklaut aus dem Keller des örtlichen Alt-Nazis, der dem Vater einmal | |
anvertraut hat, dass er einst im KZ Bergen-Belsen gearbeitet hat. | |
Zeit dieser Handlung sind die frühen neunziger Jahre. Davor und dazwischen | |
aber gibt es noch eine andere Handlungsebene in einer anderen Zeit und | |
einer anderen Kindheit: der Kindheit von Leilas Vater Josef, der in der | |
kasachischen Steppe aufwuchs, weil seine Familie zu jenen deutschen | |
Zivilisten aus den Ostgebieten gehörte, die gegen Ende des Zweiten | |
Weltkriegs in die Sowjetunion deportiert wurden. (Eben dies war auch das | |
Schicksal des Vaters von Sabrina Janesch, die ihrerseits genau wie ihre | |
kindliche Protagonistin Leila am Rande der Lüneburger Heide aufwuchs.) | |
Leila, die erwachsene Leila als Erzählerin, rekonstruiert die Geschichte(n) | |
ihres Vaters aus dem Gedächtnis; denn in der heutzutage spielenden | |
Rahmenhandlung, die den Roman einleitet, ist der Vater dabei, [1][in die | |
Demenz zu entgleiten,] und leidet darunter, alles vergessen zu haben. Dabei | |
war Vergessen das, was er einst so dringend wollte. | |
## Alles verbrennen, was an früher erinnert | |
So kommt Leila beim Neuerzählen dessen, was nicht ein weiteres Mal | |
vergessen werden soll, auch die eigene Kindheit wieder nahe, vor allem aber | |
jener Sommer, in dem der Vater beschloss, der gefühlten Vorläufigkeit | |
seiner Existenz etwas Handfestes entgegenzusetzen, ein richtiges Haus zu | |
bauen und im Zuge dessen alles zu verbrennen, was an sein früheres Leben | |
erinnerte. | |
Obwohl keine der Erzählschichten über einen Handlungsbogen im klassischen | |
Sinne verfügt, sondern beide eher episodisch verlaufen, durchzieht den | |
gesamten Roman dennoch ein latentes Spannungsgefühl – oder vielleicht eine | |
Atmosphäre ständiger Wachsamkeit, die sich bei der Lektüre überträgt. | |
Das hängt mit der kindlichen Perspektive zusammen, die die Erzählung | |
bestimmt. Denn Leila, Josef und ihre Freunde haben nicht nur Geheimnisse | |
vor den anderen; sie sind auch ständig damit beschäftigt, die rätselhafte | |
Erwachsenenwelt sehr genau zu beobachten und zu entschlüsseln. | |
Im Falle von Josef ist diese Welt ernsthaft bedrohlich, denn auch nach der | |
traumatischen Reise nach Kasachstan, während der sein kleiner Bruder stirbt | |
und die Mutter auf immer in der Steppe verschwindet, sind die Schrecken | |
nicht vorbei. Angekommen im einsam gelegenen Steppendorf, wird den | |
Deutschen verboten, Deutsch zu sprechen; die Menschen hausen in Erdlöchern, | |
[2][es gibt fast nichts zu essen,] und wegen jeder Kleinigkeit kann man | |
verhaftet werden. | |
## Die Welt der Dinge und die der Gefühle | |
Doch ungeachtet aller Gefahren ziehen Josef und sein kasachischer Freund | |
Tachawi frei durch die weite Landschaft und verfolgen große Projekte: nach | |
Josefs Mutter zu suchen und nach dem Mantel von Tachawis großem Bruder, der | |
seit dem Krieg verschollen ist. | |
Dinge haben in diesem Roman ein erstaunliches Eigenleben oder auch: eine | |
große Macht über die Menschen. Dem Mantel von Tachawis Bruder etwa kommt so | |
große symbolische Bedeutung zu, dass er sogar an Stelle des Verschollenen | |
begraben werden soll. | |
Der östliche Kunsthandwerksnippes in Leilas Elternhaus steht für die längst | |
vergangene Kindheit des Vaters und verdeutlicht sein Anderssein. Der | |
geklaute Beutel mit Zahngold (das vielleicht aus dem KZ stammt, vielleicht | |
auch nicht) ist eine Hypothek aus schlechtem Gewissen, das die Kinder | |
stellvertretend mit sich herumtragen. Und so weiter. | |
Die zahllosen zeichenhaften Bezüge zwischen der doch eigentlich unbelebten | |
Dingwelt und dem Gefühlshaushalt der Menschen durchziehen den Roman ganz | |
leichthin; es ist, als ob ein fantasievolles Kinderspiel im Gange ist, das | |
über alle Dinge und Geschehnisse einen Schleier aus zusätzlicher Bedeutung | |
legt. Zweifellos ist dabei auch viel magisches Denken am Werk; aber von | |
„magischem Realismus“ zu sprechen wäre schon wieder zu viel, weil jede | |
Genrezuschreibung zu sehr nach Kunstwollen klänge. | |
Der erzählerische Zauber, der aus diesen Seiten spricht, scheint aber ganz | |
und gar absichtslos zu entstehen. Das kann zwar so nicht stimmen, aber eben | |
das ist ja das Tolle daran. Dem erzählenden Erinnern, das hier am Werk ist, | |
fehlt jeder Hang zur verklärenden Nostalgie. Auch das Schwere wird bewahrt, | |
aber beim Erzählen wird es trotz allem seltsam schön. | |
15 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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