| # taz.de -- Aus dem Leben eines Kochs: Kindheit schmeckt nach Pelmeni | |
| > Roman Schönberger kam als Vierjähriger nach Berlin, das ihm zur Heimat | |
| > geworden ist. Er arbeitet als Koch und steigt demnächst zum Chefkoch auf. | |
| Bild: Roman Schönberger; das Tattoo auf dem Unterarm zeigt das Gesicht seiner … | |
| Berlin taz | Am Dienstagvormittag sitzt Roman Schönberger an einem Tisch in | |
| der „Datscha“ in Berlin-Friedrichshain, einer Restaurantkette, die auf | |
| russische Küche spezialisiert ist. Er ist ein schlanker Mann mit kurzem | |
| dunkelblondem Vollbart, trägt ein rosafarbenes T-Shirt, ein volltätowierter | |
| rechter Arm guckt heraus. Schönberger lächelt die Kellnerin an, während sie | |
| ihm eine Apfelschorle reicht. Das Nickelgoldgestell seiner runden | |
| Vintage-Brille reflektiert das Licht in dem Innenraum sowie die Rolex an | |
| seinem linken Handgelenk. | |
| „Datejust“ heißt das Modell in Gold und Silber aus dem Jahr 1991. „Die h… | |
| ich mir vor drei Jahren für 5.000 Euro gekauft“, sagt der 33-Jährige und | |
| sieht dabei sehr zufrieden aus. „Falls ich mal Probleme habe, kann ich sie | |
| immer wieder verkaufen. Die ist überall auf der Welt etwas wert.“ Zwar | |
| laufe es heute gut bei ihm, wie er erzählt, aber das sei nicht immer so | |
| gewesen. | |
| Als kleiner Junge, im Alter von vier Jahren, flüchtete Schönberger mit | |
| seiner Familie 1994 aus Nowotroizkoje in Kasachstan nach Berlin. Als die | |
| Sowjetunion zerfiel, sei die Arbeit seines Vaters als Transporteur | |
| schwierig geworden. Die Grenzpolizisten verlangten hohe Bestechungsgelder, | |
| oft hätten sie den Vater verprügelt. Seine Eltern entschieden, nach Berlin | |
| zu fliehen. Deutsch sprachen sie nicht, aber sie hatten einen deutschen | |
| Nachnamen und damit die Sicherheit, in Deutschland leben zu dürfen. | |
| Schönbergers Familie gehört zu den etwa [1][zweieinhalb Millionen | |
| Russlanddeutschen], die heute in der Bundesrepublik zu Hause sind. Die | |
| genaue Zahl kennt niemand, weil sie nur ein Teil der größeren [2][Gruppe | |
| der Spätaussiedler] sind. Die meisten kamen in den 90er Jahren aus Sibirien | |
| und Kasachstan, wohin sie unter Stalin deportiert worden waren – | |
| unterdrückt als Deutschstämmige, denen man unterstellte, dass sie mit dem | |
| Feind verbunden waren. | |
| ## „Nicht selten Zwölfstundenschichten“ | |
| Diskriminierung habe er in Deutschland nie erlebt, sagt Schönberger: „Die | |
| Leute ahnen normalerweise nicht, dass ich in Berlin nicht geboren bin.“ | |
| Wenn er dann auf Russisch spreche, guckten die meisten neugierig. | |
| Nach der Schule fing Schönberger direkt mit der Kochausbildung an, in einem | |
| österreichischen Feinschmeckerrestaurant. „Zwölfstundenschichten waren | |
| nicht selten“, erinnert er sich. „Ich war der einzige Azubi und habe in dem | |
| Laden ziemlich viel geputzt und abgespült.“ Dabei habe er immer aufmerksam | |
| zugesehen, was die anderen kochten. | |
| Mittlerweile arbeitet Roman Schönberger seit zwölf Jahren als Koch. Im | |
| Moment hat er frei, bereitet sich für einen neuen Schritt in seiner | |
| Karriere vor: „Ich arbeite gerade an der Speisekarte eines fine dining | |
| Restaurants, das im Frühling eröffnen wird. Ich werde dort als Chefkoch | |
| anfangen.“ Vor allem liebe er technisch schwierige Gerichte, sie schaffe er | |
| mit seinen schmalen Fingern viel leichter als andere. Zum Beispiel das | |
| Dessert „Aprikosen-Rosmarin-Blütenpollen“ – seine eigene Kreation. | |
| Ein Video der Zubereitung ist auf seinem Instagram-Account zu sehen – | |
| obwohl nicht professionell, hat dieser über 1.300 Follower. Viele Posts | |
| zeigen ihn als Gast in berühmten Restaurants, andere hinter dem Herd mit | |
| der weißer Kocharbeitskleidung. In einem Filmchen steht Schönberger in der | |
| Küche seines letzten Arbeitsorts in Berlin-Friedrichshain, wo er die | |
| Aprikosen-Rosmarin-Blütenpollen-Nachspeise berühmt gemacht hat: | |
| Hochkonzentriert bläst er eine goldene Zuckerpaste mit einem Blasebalg | |
| vorsichtig zu einer glänzenden Kugel auf. Bis die süße Mousse in der | |
| harten, goldenen Hülle hält, ist viel Aufwand nötig. „Manchmal habe ich | |
| bereut, dass wir das Dessert auf der Karte hatten. Die Kugeln musste ich | |
| immer allein machen, die kriegte außer mir sonst keiner hin.“ | |
| ## Tattoo vom Bruder | |
| Ohne Kochen könne er sich sein Leben nicht vorstellen, sagt Schönberger. | |
| „Es ist ein Teil von mir, gehört zu meiner Identität.“ Er zeigt auf ein | |
| Tattoo auf seinem rechten Unterarm, es stellt den heiligen St. Laurentius | |
| dar, den Schutzheiligen der Köche. Daneben sind Tattoos seiner Familie zu | |
| sehen: der Vater, die Mutter, die Schwester. „Das Tattoo von meinem Bruder | |
| kommt auch noch“, erzählt er und zeigt auf eine freie Hautfläche auf dem | |
| inneren Oberarm. | |
| Das allererste Tattoo hat er mit 18 machen gelassen, auf seiner rechten | |
| Seite heute noch gebleicht zu sehen: Ein „R“ mit einer Krone drauf, im | |
| Graffiti-Style. Das habe für ihn ein Mitglied seiner damaligen | |
| Graffiti-Gruppe gezeichnet. Die Crew hieß 35 – das kommt von „O-1035“, d… | |
| alte Postleitzahl von Friedrichshain, das „O“steht für Ostdeutschland. Als | |
| er 15 war, wurde er wegen illegalen Sprayens aufs Polizeirevier geladen. | |
| Die Vorladung und das Tattoo sind jetzt alles, was ihm von seiner | |
| Graffiti-Vergangenheit geblieben ist. | |
| Anderntags sitzt Schönberger auf einem blauen Sofa in seiner Wohnung in | |
| Berlin-Lichtenberg. Das Wohnzimmer ist klein, der Raum reicht für einen | |
| Sessel und davor einen dunkleren Couchtisch aus Holz mit einer Glasschale | |
| voller Gummibärchen darauf. Hinter Schönbergers Rücken hängt eine Gitarre, | |
| der einzige Gegenstand an der Wand: „Die war von meinem Vater, er ist 2011 | |
| an Krebs gestorben“, sagt er und blättert dabei in einem Fotoalbum. | |
| Die Bilder zeigen ein blondes Kind und zwei Jugendliche: Schönberger mit | |
| Bruder und Schwester, jeweils 8 und 10 Jahre älter. Sie posieren vor einem | |
| Weihnachtbaum in einem eher schlichten Wohnzimmer, grün und braun | |
| eingerichtet, aus DDR-Zeiten. Schönbergers erstes Zuhause in Deutschland | |
| war ein Flüchtlingsheim in Berlin-Lichtenberg. | |
| ## Erste eigene Wohnung in Friedrichshain | |
| Ein Jahr lang haben sie dort gewohnt, dann zogen sie in die erste eigene | |
| Wohnung in Friedrichshain. „So richtig erinnere ich mich nicht mehr an | |
| diese Zeit“, sagt er. „Ich weiß nur noch, dass es viele Flüchtlinge aus | |
| Vietnam und viele Russlanddeutsche gab.“ Mit einer anderen | |
| russischsprachigen Familie teilten sie sich das Badezimmer. Heute sind die | |
| beiden Familien verwandt: Schönbergers Schwester hat den Nachbarsjungen | |
| geheiratet. | |
| Als Schönberger nach einer eigenen Wohnung suchte, landete er wieder in | |
| Lichtenberg. „Zurück am Ausgangspunkt“, sagt er lachend. Der Ort, an dem | |
| das Flüchtlingsheim stand, ist nicht weit von seiner heutigen Bleibe | |
| entfernt. „Das war nur 100 Meter weiter“, sagt er auf ein hohes | |
| kastenförmiges Gebäude zeigend, das man von seinem Sofa aus durch das | |
| Wohnzimmerfenster sieht. Mittlerweile stehe dort ein Krankenhaus. | |
| Was geblieben ist, ist der russische Supermarkt. Schönberger sagt, er kaufe | |
| hier regelmäßig ein. Er mag es, dass er dort Russisch sprechen kann. | |
| Außerdem gibt es dort karamellisierte Kondensmilch. „Mit der habe ich auch | |
| ein Dessert in der Küche des Sternekochs Vjekoslav Pavic kreiert.“ | |
| Die Liebe zum Kochen habe er von seiner Mutter, sie sei auch Köchin. „Als | |
| ich klein war, hatte sie zwei Jobs, hat aber immer frisch für uns gekocht.“ | |
| Keine Fertiggerichte wie bei den deutschen Mitschülern. „Kindheit schmeckt | |
| für mich nach Pelmeni, gefüllten Teigtaschen mit Schmand drauf.“ | |
| Der Krieg in der Ukraine habe nicht viel in seinem Leben verändert, sagt | |
| Schönberger, jedoch schickt er seitdem einem Freund in Kyjiw, den er vor | |
| Jahren in Berlin kennengelernt hat jeden Monat Geld. Durch die | |
| Sprachnachrichten, die der Freund auf Russisch schickt, bekomme er mit, wie | |
| das Leben in der ukrainischen Hauptstadt weiterläuft. Den Krieg bezeichnet | |
| er als „Völkermord“. Jeden Morgen schaue er die Nachrichten, um sich auf | |
| dem Laufenden zu halten. Dabei gehören Nachrichten eigentlich nicht zu | |
| seiner Morgenroutine: „Politik interessiert mich eigentlich nicht, egal ob | |
| deutsche oder russische.“ | |
| Mit den wenigen Verwandten, die noch in Russland leben, hat er seit Jahren | |
| keinen Kontakt, dafür habe er keine Zeit. Gerade plant er, mit seiner | |
| Freundin zusammenzuziehen. „Mein ganzes Leben ist in Ostberlin.“ | |
| 9 Jan 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Russlanddeutsche-und-Sprache/!5878378 | |
| [2] /Wissenschaftler-zu-postsowjetischer-Migration/!5733742 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Dotti | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Integration | |
| Russlanddeutsche | |
| Kochen | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Serien-Guide | |
| Literatur | |
| wochentaz | |
| Moor | |
| Engagement | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Museum für russlanddeutsche Geschichte: Jede Menge Schicksal | |
| Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold ist einzig in | |
| Deutschland. Der rote Faden ist Migration – mal freiwillig, mal unter | |
| Zwang. | |
| Disney-Serie „The Bear“: Sterneküche statt Imbiss | |
| Die zweite Staffel von „The Bear“ erzählt von Kochen und (Wahl-)Familien. | |
| Etwas Besseres kann man derzeit in Deutschland kaum streamen. | |
| Neuer Roman von Sabrina Janesch: Eine ernsthaft bedrohliche Welt | |
| Von familiären Traumata erzählt Sabrina Janeschs Roman „Sibir“. Es geht | |
| darum, die Erwachsenenwelt genau zu entschlüsseln. | |
| Kampf gegen Autos in der Autostadt: VW wie Verkehrswende | |
| In der VW-Stadt Wolfsburg haben sich Aktivist*innen niedergelassen. Sie | |
| wollen, dass VW auf die Produktion von Straßenbahnen umstellt. | |
| Klimafarm in Schleswig-Holstein: Das Moor wird wieder nass | |
| Auf einem früheren Viehhof ist der ökologische Wandel zu besichtigen. Das | |
| Ziel: Landwirtschaft auf wiedervernässten Flächen profitabel machen. | |
| Wem gehört der öffentliche Raum?: Die Nachbarn, die Box und der Müll | |
| In Hamburg-St. Pauli kämpft eine Nachbarschaft um eine Tauschbox. Warum tut | |
| sie das? Über ein Beispiel lokaler Ökonomie. |