Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wem gehört der öffentliche Raum?: Die Nachbarn, die Box und der M…
> In Hamburg-St. Pauli kämpft eine Nachbarschaft um eine Tauschbox. Warum
> tut sie das? Über ein Beispiel lokaler Ökonomie.
Bild: Manchmal treffen hier Dinge aufeinander, die sich sonst nie begegnet wär…
Als ich das erste Mal von der Tauschbox am Paulinenplatz höre, ist sie
schon nicht mehr da. Nur auf Fotos ist sie noch zu sehen: aus massivem
Holz, groß wie ein Kleiderschrank, mit eigenen Regalen für die Bücher in
der Mitte und daneben Stangen für die Kleider und ganz unten Schubladen für
die Schuhe. Beschützt von einem Dach mit einem „Freebox“-Schild, stand sie
am Zaun des Spielplatzes mit alten Bäumen, der in der Mitte des
Paulinenplatzes liegt.
Die Box sah aus, als sei sie für die Ewigkeit gebaut, doch das war ein
Irrtum: „Tag X kam überraschend schnell!“, heißt es in einer Mail, die me…
einem Hilferuf glich, geschrieben im Namen einer Nachbarschaftsgruppe, die
sich um den Betrieb gekümmert hatte. Sie hatten Gerüchte gehört, dass die
Stadt die Box räumen wolle. Doch als der Absender die Mail verschickte,
[1][war es schon zu spät]. Die Hamburger Stadtreinigung hatte vollendete
Tatsachen geschaffen.
Ein Video, mit einem Handy aufgenommen von einer Passantin, zeigt zwei
Mitarbeiter der Stadtreinigung in orangefarbener Arbeitskleidung, die mit
großen Äxten auf die umgekippte Box einschlagen. Von hinten läuft ein
dritter Mann in Orange auf sie zu, aus Richtung eines Lieferwagens der
Stadtreinigung, der auf der Straße geparkt ist.
Der Paulinenplatz auf St. Pauli liegt zentral zwischen Sternschanze und
Reeperbahn, bis zum Fußballstadion des Stadtteilclubs ist es nicht weit. In
den Straßen parken Mittelklasseautos, viele VWs, kleine Mercedesse, ab und
zu ein alter Campingbus. Ein großes Gebäude aus gelben Klinkerstein
beherbergt derzeit ein Gymnasium, das zwischenzeitlich heimatlos geworden
war, in den Fenstern bekunden gelb-blaue Schilder Solidarität mit der
Ukraine.
## Kundgebung vor dem Zaun
Am Samstag nach dem Abriss, die Blätter sind noch auf den Bäumen, aber es
ist eisig kalt, hat die Freebox-Gruppe zu einer Protestkundgebung geladen.
Vor dem Zaun stehen kleine Grüppchen, die Nachbarschaft aus den umliegenden
Altbauwohnungen ist da. „Meine Freundin kommt am Wochenende aus Lüneburg,
aber als Erstes geht sie nicht zu mir, sondern zur Tauschbox“, witzelt ein
Mann; später erzählt er von dem Bienenstock, den er in der Nähe betreut.
Passanten bleiben stehen, erkundigen sich, schütteln den Kopf, tragen ihren
Namen in Unterschriftenlisten ein.
Am Zaun zum Spielplatz hängen Transparente, auf denen jeder, der will,
Botschaften zur Freebox hinterlassen kann: „WTF?“ steht in einer
Sprechblase, die aus dem Schnabel einer Taube kommt, „Sharing is caring“ –
und: „Es lebe die Umsonstökonomie“.
Daneben, ungefähr an der Stelle, an der die alte Tauschbox stand, entsteht
langsam eine neue provisorische Sammelstelle: Ein Tisch ist da, auf dem ein
Koffer mit Kleidern steht, irgendjemand hat Regenschirme an dem Zaun
befestigt, die den Tisch beschützen.
„So einfach kommentarlos abreißen, das geht doch gar nicht“, sagt ein
Nachbar. Die Kompromisslosigkeit des städtischen Vorgehens ist es, die hier
viele empört. Verkündet die Stadt Hamburg auf ihrer Homepage nicht stolz,
wie toll es mit der [2][Sharing-Ökonomie] in der Stadt läuft? Und führt sie
als leuchtende Beispiele nicht auch die Tauschboxen an, darunter explizit
die am Paulinenplatz?
Zumindest, da sind sich die Tauschbox-Freunde an diesem Samstag einig,
hätte die Stadtreinigung den Abriss ankündigen können, so wie sie es bei
den kaputten Fahrrädern macht, die ein paar Meter weiter an einem Geländer
stehen. Auf den Fahrrädern kleben orange-rote Zettel, auf denen steht, dass
sie weggeschafft werden.
Inzwischen ist auch durchgesickert, warum die Stadtreinigung glaubte, die
Tauschbox beseitigen zu müssen: In letzter Zeit sei der Bereich um die Box
herum jeden Morgen zugemüllt gewesen, Matratzen und Möbel seien abgestellt
worden, teilt die Behörde mit. Auf dem Spielplatz sei übernachtet worden,
man habe morgens immer öfter Glasscherben und Spritzen einsammeln müssen.
Die Stellungnahme ist in einem um Verständnis bemühten Ton geschrieben,
etwa wie: „Nehmt’s nicht persönlich, Leute, aber so ging das echt nicht
weiter“, nur auf Behördendeutsch. Hamburg, das darf man nicht vergessen,
wird rot-grün regiert, der Bürgermeister ist SPD, der Amtsleiter des
Bezirks Hamburg-Mitte, zu dem St. Pauli gehört, auch.
## „Vermüllung“ als Argument
Doch wie sieht es nun aus, ist an den Vorwürfen etwas dran? Ist
„Vermüllung“ überhaupt ein Argument in einer Stadt wie Hamburg, wo die
Leute sowieso ihre Sachen abstellen, wenn nicht hier, dann woanders? Die
Meinungen dazu gehen an diesem Samstag weit auseinander. Vermüllt? „Auf gar
keinen Fall!, sagte eine Anwohnerin empört. „Es war ersichtlich, dass es
gepflegt wird.“ Ein paar Tage später treffe ich die Frau zufällig wieder,
in Begleitung eines kleinen Mädchens, wie sie sich die Sachen anschaut, die
am Zaun liegen. In der Hand hält sie quietschrosa Kinder-Gummistiefel.
„Bestimmt gibt es auf dem Spielplatz Spritzen und Flaschen, aber das hat
doch nichts mit der Freebox zu tun“, meint ein anderer Anwohner. Auf St.
Pauli müsse man leben und leben lassen, so sei der Stadtteil eben.
Andere denken, dass es in letzter Zeit schon Probleme gegeben habe. „Es
gibt Leute, die manchmal alte Sofas herbringen, das ist asozial“, sagt ein
Nachbar. Ein anderer berichtet, dass er, wenn er nachts aus dem Fenster auf
den Paulinenplatz schaute, im Dunkeln Gestalten mit Stirnlampen gesehen
hat, die sich an der Box zu schaffen machten. Am nächsten Morgen hätten die
Sachen dann immer verstreut herumgelegen.
Tatsächlich ist der Stadtteil St. Pauli, was die Menschen angeht, die dort
leben, noch wirklich gemischt, auch wenn die Preise bei den Immobilien und
bei den Neuvermietungen ins Astronomische gestiegen sind. Um den
Paulinenplatz herum halten sich Obdachlose auf, eine Zeit lang hatten sie
ihr Nachtlager sogar an einer überdachten Ecke der Schule, dort, wo jetzt
die Fahrräder stehen. Es gibt im Viertel Menschen mit Drogenproblemen, und
um die Ecke, im Hotel Budapester Hof, sind Geflüchtete aus der Ukraine
untergebracht. „Die haben im Sommer auf dem Paulinenplatz ihr Wohnzimmer
aufgeschlagen“, sagt ein Anwohner, sogar Sessel hätten sie angeschleppt.
Der Spiegel [3][berichtete].
Auf der anderen Seite aber gibt es ja auch die Anwohner, die sich für die
Tauschbox engagieren. „Da gibt es eine Dame, die immer aufgeräumt hat, die
ist jetzt leider nicht da“, sagt ein Anwohner. Kurz darauf: „Aber da hinten
ist sie ja!“
Eine Frau mit zersausten Haaren nähert sich und stellt sich als Diana vor.
„Ich habe mich eine Zeit lang schon sehr um die Box gekümmert, jeden Morgen
zwischen 5 und 6 war ich hier“, sagt Diana. Aber dann bekam sie Corona,
„gerade als das überhandnahm mit den Möbeln und so, und als ich wiederkam,
war die Box weg“.
Diana sagt, dass es ihr nicht gut ging damals und dass die Box ihr geholfen
habe. „Ich hab so tolle Leute kennengelernt!“ Auf dem Instagram-Kanal der
Freunde der Tauschbox vom Paulinenplatz ist Diana mit einem Schild zu
sehen, das sie hochhält. „Die Freebox hat mich aus der Depression geholt“,
steht darauf, mit einem Smiley.
Derjenige, der den Widerstand organisiert und so etwas ist wie der
inoffizielle Sprecher der Tauschbox-Gruppe, ist Christian, ein
Sozialarbeiter, der sich um die Tauschbox neben seiner Arbeit kümmert. Wir
haben uns ein paar Tage nach der Protestkundgebung am Paulinenplatz
verabredet, er ist schon da, als ich komme, und redet mit Passanten.
Inzwischen steht hier schon mehr, ein weißes Regal ist dazugekommen, mit
einer Plastikfolie als Vorhang gegen den Regen, in dem vor allem Bücher
drin zu sein scheinen. Der Kleiderkoffer auf dem Tisch ist vom Regen leider
inzwischen etwas durchnässt, auf dem Boden stehen Plastikkisten mit
Schuhen.
Auch nach dem Abriss ist die Stelle am Zaun hoch frequentiert, oft vergehen
nur ein paar Sekunden, bis wieder jemand kommt und schaut. Eine junge Frau
stellt einen Wäscheständer ab. „Er ist nicht mehr ganz in Ordnung“, sagt
sie entschuldigend, nachdem sie kurz im Koffer mit der Wäsche gestöbert
hat. Eine Minute später ist der Wäscheständer weg, genauso wie der Stapel
aus Bilderrahmen, den eine junge Mutter auf dem vorderen Gepäckträger ihres
Fahrrads balanciert, während ihr Kind hinten im Kindersitz dämmert.
Weil es so kalt ist, gehen wir in den kleinen Imbiss gegenüber, er heißt
„Kleine Pause“ und hat die unaufgeregte Ausstrahlung einer Uni-Cafeteria
der 80er Jahre. Es riecht nach Fett, auf der Karte stehen Burger und Spare
Ribs, auch Schaschlik wäre zu haben, der Kaffee kommt aus der
Warmhaltekanne. Man kennt sich. „Einen Tee?“, fragt die Bedienung,
Christian nickt.
Die Box, wie sie war, stand da noch gar nicht so lange, erzählt Christian,
erst seit dem ersten Corona-Lockdown. Erst waren sie zu dritt, die sich
darum gekümmert haben, später waren es bis zu zehn Leute. Eigentlich seien
sie gut organisiert, in einer Telegram-Gruppe, in der jeder, der an der Box
war, um aufzuräumen, für die anderen eine Nachricht mit Fotos hinterließ.
Sie malten Schilder, dass große Möbel nicht hier hingehörten. Und wenn doch
welche kamen, organisierten sie ein Auto und schafften die Matratzen zum
nahen Recyclinghof, manchmal reichte darum auch ein Fahrrad mit Anhänger.
Dann aber wurde eine Hauptakteurin krank, eine andere ging in den Urlaub,
und Christian selbst zog einige Kilometer weiter nach Altona. Weitere
Aktive zogen innerhalb von St. Pauli um, ein paar Straßen zu weit.
Christian versuchte noch sie zum Weitermachen zu bewegen, aber sie waren
weg. „Das haben wir unterschätzt“, sagt er nachdenklich und rührt in sein…
Tee.
Inzwischen hat Christian wieder einige Leute zusammen, und es ist ein
Gespräch mit dem Bezirksamt angesetzt. Die Tauschbox, sagt er, sei „mega“,
er betrachtet sie als Experiment: „Ich find das total spannend, wie man mit
öffentlichem Raum umgeht in Deutschland.“
Ein paar Tage sind vergangen, auf dem Paulinenplatz pfeift der Wind, und
Vio, Christians Freundin, sammelt Unterschriften für das Gespräch mit dem
Bezirksamt. „Die Box war unser Coronaprojekt“, sagt Vio. Für sie gibt es
keinen Müll, das hat ihr ihr Vater beigebracht, mit dem sie
Haushaltsauflösungen besuchte und auf Trödelmärkte ging.
Vio wohnt nah am Paulinenplatz, im Karoviertel, wo sie als Barrista
arbeitet, und sagt Sätze wie: „Es ist Teil meiner Identität, Dinge
wiederzuverwenden.“ Eine Frau nähert sich mit einem jungen Mädchen, das
eine hellrosa Pudelmütze trägt. „Sie sind von der taz?“, sagt sie. „Die
Zeitung würd ich ja nicht mit der Kneifzange anfassen!“
Aber sie redet mit der taz. Die Frau trägt einen Wollschal gegen die Kälte
und sagt, dass sie es auch ganz schlimm findet, wie viel weggeworfen werde:
„Ich hab schon lange nichts mehr gekauft.“ Ihre ganze Wohnung habe sie ohne
Geld eingerichtet, den ganzen Hausrat besorgt. „Ich musste ja nochmal
komplett neu durchstarten, und das in meinem Alter.“
Sylvana, Vios Mitstreiterin, kommt mit Erna an der Leine her, einer
betagten Hundedame, in dem auch ein bisschen Dackel steckt. In der
Paulinenplatzgruppe, sagt Sylvana, habe sie nur nette Leute kennengelernt.
„Leute, die etwas tun wollen und dann auch wirklich etwas tun.“
Sylvana wohnt um die Ecke und ist Köchin. Sie sagt, es mache ihr Spaß,
aufzuräumen. „Aber du müsstest mal Christian sehen, wenn der aufräumt. Da
bin ich gar nichts gegen!“
500 Unterschriften hat die Freebox-Gruppe vom Paulinenplatz am Ende
gesammelt, das Treffen mit dem Bezirksamt wurde einmal verschoben, verlief
dann aber erfolgreich: Die Freebox wird wiederkommen, wie genau, müssen
die Aktivisten mit der Stadtreinigung besprechen, so das Ergebnis. Sie
sollen wohl Verantwortliche benennen.
Die Stadtreinigung steht am Anfang und am Ende dieser Geschichte, auch sie
will ja nur aufräumen. Nur dass, was sie darunter versteht, womöglich nicht
immer dasselbe ist wie das, was die Menschen vor Ort wollen.
## Eva räumt auf
Bei meinem letzten Besuch auf dem Platz, an dem die Tauschbox stand, ist
Stille eingekehrt. Vor der Behelfskonstruktion, die die Tauschbox vertritt,
steht Eva. „Ich räum ein bisschen auf“, sagt sie und stellt Bücher um,
damit sie nicht nass werden.
In dem Regal stehen unter anderem: „Vegan in Topform“, gebunden, mit
Umschlag und Farbfotos, ein hellgrünes „PONS Business English“, Marcel
Reich-Ranicki: „Mein Heine“, und ein Roman von John Updike.
Eva hat sich einen grün geblümten Stoff mit lila Punkten geholt, daraus
will sie „was nähen“. Als sie weg ist, kommen zwei Männer und diskutieren
lautstark auf Russisch über eine gelbe Reisetasche, die auf dem Tisch
liegt. Woher sie kommen? „We are from Ukraine“, sagt der eine, aber er sei
in Indien geboren.
Die Tasche nehmen sie mit.
14 Dec 2022
## LINKS
[1] /Stadtreinigung-entfernt-Tauschbox/!5892441
[2] https://www.hamburg.de/sharing-economy/
[3] https://www.spiegel.de/panorama/gefluechtete-aus-der-ukraine-in-hamburg-die…
## AUTOREN
Daniel Wiese
## TAGS
Engagement
St. Pauli
Ökonomie
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Nachbarschaft
wochentaz
Hamburg
Lesestück Interview
Schwerpunkt Radfahren in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aus dem Leben eines Kochs: Kindheit schmeckt nach Pelmeni
Roman Schönberger kam als Vierjähriger nach Berlin, das ihm zur Heimat
geworden ist. Er arbeitet als Koch und steigt demnächst zum Chefkoch auf.
Stadtreinigung entfernt Tauschbox: Abriss statt Kommunikation
Auf St. Pauli wurde eine Tauschbox ohne Ankündigung von der Hamburger
Stadtreinigung zerstört und entsorgt. Nun protestieren die Anwohner*innen.
Designer über Nachhaltigkeit: „So viel Mode hat keinen Charakter“
Der ugandische Designer Bobby Kolade macht Mode aus europäischen
Altkleidern. Er glaubt, mit seiner Kollektion einen Nerv zu treffen.
Repaircafés in Berlin: Das geht doch noch!
In Berlin fallen jährlich 70.000 Tonnen Sperrmüll an. Repaircafés und
weitere Initiativen versuchen, dem Müll ein zweites Leben zu geben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.