| # taz.de -- Museum für russlanddeutsche Geschichte: Jede Menge Schicksal | |
| > Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold ist einzig in | |
| > Deutschland. Der rote Faden ist Migration – mal freiwillig, mal unter | |
| > Zwang. | |
| Bild: Bereit zur Abreise: Ein Foto kurz vor dem Abschied in Kamenka 1989 | |
| Detmold taz | Das historisch wertvollste Ausstellungsstück im [1][Museum | |
| für russlanddeutsche Kulturgeschichte] in Detmold ist eine schwere, | |
| liebevoll bemalte Holztruhe. Über Generationen bewahrte in ihr eine Familie | |
| ihre Habe auf. „Die Truhe ist den gesamten Migrationsweg einer | |
| russlanddeutschen Familie mitgewandert“, sagt Kulturreferent Edwin | |
| Warkentin. „Sie wurde in Westpreußen gefertigt. Im 19. Jahrhundert nahm die | |
| Familie sie mit zu ihrer Ausreise ins Russische Reich. In den 1990er Jahren | |
| kam das schwere Möbel mit der Familie dann hierher.“ | |
| Viele andere Ausstellungsstücke haben nur den Weg aus der Sowjetunion nach | |
| Deutschland zurückgelegt. Ein in der Sowjetunion gefertigter Falzhobel | |
| beispielsweise, mit der ein Aussiedler, ein gelernter Tischler, auch in | |
| Deutschland seine Brötchen verdienen wollte. „Alle Ausstellungsstücke haben | |
| uns Spätaussiedler geschenkt“, sagt Warkentin. | |
| Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte ist einzigartig in | |
| Deutschland. Die Gründung 1997 geht auf eine zivilgesellschaftliche | |
| Initiative von Russlanddeutschen in Detmold zurück. 2011 konnte es den | |
| Seitenflügel einer Gesamtschule beziehen. Seit 2016 wird es vom Bund | |
| gefördert. „Uns besuchen 12.000 Gäste pro Jahr“, sagt Direktor Kornelius | |
| Ens. Und noch viel mehr Menschen, mehr als 100.000 weltweit, haben den | |
| Podcast [2][„Steppenkinder“] des Museums mit insgesamt 44 Folgen geklickt. | |
| Der Podcast unterscheidet sich angenehm von sonst auch sehr | |
| deutschtümelnden Äußerungen aus der Landsmannschaft der Deutschen aus | |
| Russland. Warkentin und die Journalistin Ira Peter, die ihn gemeinsam | |
| gestalten, sind als Kinder von Kasachstan nach Deutschland gekommen. | |
| Russlanddeutsche sehen sie nicht als die Deutschesten der Deutschen, | |
| sondern als Teil der Migrationsgesellschaft. Sie erzählen von ihrem | |
| schwierigen Ankommen in Deutschland, von ihrem ersten Döner, dem Einleben | |
| in das deutsche Schulsystem. | |
| ## Leidensgeschichten in der Stalin-Ära | |
| Die Leidensgeschichte der Deutschen in der Sowjetunion der Stalin-Ära sehen | |
| sie nicht losgelöst von anderen Volksgruppen, sondern sie erzählen, dass | |
| ihre Vorfahren gemeinsam mit Tschetschenen, Balten, Finnen, Ukrainern und | |
| anderen in Gulags leiden mussten, allein ihrer Volkszugehörigkeit wegen. | |
| Und sie haben Geschichten aus Archiven ausgebuddelt, die man schlicht kaum | |
| glauben kann. Beispielsweise, dass 1930 ein gesamtes russlanddeutsches Dorf | |
| mit mehr als 200 Bewohnern aus dem Fernen Osten der Sowjetunion mit | |
| Pferdeschlitten [3][mitten im Winter über den zugefrorenen Amur nach China | |
| flüchtete] und von dort weiter nach Lateinamerika. Oder dass 1982 zwei | |
| russlanddeutsche Brüder ein Flugzeug in die Türkei entführten, um nach | |
| Deutschland zu gelangen, wo sie nach einer mehrjährigen türkischen | |
| Haftstrafe auch landeten. | |
| Mit den Beispielen wollen die Podcaster den enorm großen Wunsch vieler | |
| Russlanddeutscher, die Sowjetunion zu verlassen, zeigen. Der war aber von | |
| wenigen Ausnahmen abgesehen erst nach 1987, als die Sowjetunion ihre | |
| Ausreisebestimmungen lockerte, und dann nach ihrem Zerfall möglich. | |
| Eine der Ausnahmen ist Museumsdirektor Kornelius Ens. Der Theologe wurde | |
| 1981 in Deutschland geboren, nachdem es seinen Eltern gelungen war, aus der | |
| kirgisischen Sowjetrepublik legal auszureisen. Genau wie Ira Peter und | |
| Edwin Warkentin, die in der kasachischen Sowjetrepublik geboren wurden, | |
| kommt Ens Familie also gar nicht aus Russland. Warum heißen die drei dann | |
| Russlanddeutsche? | |
| „Der Name ist historisch gewachsen. Er bezieht sich nicht auf die heutige | |
| Russische Föderation, sondern auf das Russische Reich“, erläutert | |
| Warkentin. Dorthin seien ihre Vorfahren ja einst ausgewandert, dem Ruf der | |
| Zarin Katharina der Großen folgend. Das Wort „Russlanddeutsche“ entstand | |
| nach dem Ersten Weltkrieg, als die ersten Deutschen die Sowjetunion | |
| verlassen hatten. Da sie die Sowjetunion politisch ablehnten, nannten sie | |
| sich aber nicht Sowjetdeutsche, sondern Russlanddeutsche. | |
| ## Der Kollaboration verdächtigt | |
| Die Hälfte der Russlanddeutschen, die nach Deutschland kamen, reiste aber | |
| aus Kasachstan ein, gut ein Drittel kam aus Russland. Nach dem Überfall | |
| Hitlers auf die Sowjetunion 1941 wurden Russlanddeutsche kollektiv der | |
| Kollaboration mit Nazideutschland verdächtigt und in entlegene Gebiete in | |
| Sibirien und Zentralasien verbannt, die meisten kamen in Sondersiedlungen | |
| und Gulags. 220.000 von ihnen kamen dort oder bereits auf dem Weg dorthin | |
| um. Die deutsche Sprache zu sprechen war dort nicht möglich und sie wurde | |
| an die nächste Generation nicht weitergegeben. In der Sowjetunion waren sie | |
| dennoch aufgrund ihrer Namen als Deutsche erkennbar, wurden bereits als | |
| Kinder als „Nazis“ diskriminiert. | |
| Nach Stalins Tod wurden zwar viele Restriktionen gelockert, trotzdem | |
| durften Russlanddeutsche aber auch dann noch lange nur in entlegenen | |
| Gebieten in Kasachstan oder Sibirien leben. | |
| Insbesondere seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt der | |
| Begriff „Russlanddeutsche“ in Verruf, weil er eine Verbindung zur | |
| Russischen Föderation assoziiert. Die Sympathie für Putin teilt nur ein | |
| Teil der Russlanddeutschen. Andere leisten viel bei der Unterstützung von | |
| Ukraine-Flüchtlingen. „Das ist gerade in unserer Region Ostwestfalen-Lippe | |
| so“, sagt Warkentin. Freikirchen mit vielen Russlanddeutschen hätten viele | |
| Ukrainer aufgenommen, sagt er. | |
| Dass das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Ostwestfalen-Lippe | |
| beheimatet ist, ist ein Stück weit Zufall, ein Stück weit aber auch nicht. | |
| „Wir sind die Region mit dem höchsten Spätaussiedleranteil bundesweit“, | |
| sagt Warkentin. Die benachbarte Großstadt Paderborn weist mit 10 Prozent | |
| die meisten Spätaussiedler unter allen Großstädten auf. Und auch in Detmold | |
| sind Zuwanderer zum größten Teil Russlanddeutsche. | |
| ## Die Frage nach der AfD | |
| Und wie ist das mit der AfD-Präferenz der Russlanddeutschen? Ens und | |
| Warkentin halten es für eine Medienkonstruktion, dass fast alle | |
| Russlanddeutschen AfD wählen würden. Eine einzige sozialwissenschaftliche | |
| Untersuchung zum Wahlverhalten der Gruppe stammt aus dem Jahr 2017. Dort | |
| hatten bei einer insgesamt geringen Wahlbeteiligung 15 Prozent der | |
| Russlanddeutschen erklärt, bei der Bundestagswahl die AfD gewählt zu haben. | |
| Unter der Gesamtbevölkerung waren es 13 Prozent. Bei den Russlanddeutschen | |
| nahm die AfD damit Platz 3 ein, nach CDU/CSU und Linken. Warkentin hat eine | |
| Erklärung für die Medienkonstruktion: „Die Medien schauen in die sozialen | |
| Hotspots, dorthin, wo besonders viele Russlanddeutsche in prekären | |
| Verhältnissen leben.“ Dort werde in der Tat viel AfD gewählt. „In meinem | |
| Bekanntenkreis kenne ich fast niemanden, der bei der AfD das Kreuz macht“, | |
| sagt er. Eine neue Tendenz wäre allerdings eine ihm zahlenmäßig nicht | |
| bekannte Affinität zur Wagenknecht-Partei. „Mit ihrem Antiamerikanismus und | |
| ihrer Putinnähe kommt sie bei einigen Russlanddeutschen an.“ | |
| Das Museum zeigt im Erdgeschoss das goldene 18. und 19. Jahrhundert der | |
| Russlanddeutschen: Da folgten 200.000 Menschen ab 1763 dem Ruf Katharina | |
| der Großen und siedelten in Steppengebieten des Russischen Reiches, vor | |
| allem an der Wolga, im Schwarzmeerraum und der Westukraine. Die Zarin | |
| garantierte den Deutschen Religionsfreiheit, Wehrdienstfreiheit und | |
| Steuerprivilegien. Menschen, die aus religiösen Gründen keinen Wehrdienst | |
| leisten wollten, und Bauernsöhne, die kein Land geerbt hatten, folgten dem | |
| Ruf Katharinas. Als Gegenleistung mussten sie Steppenregionen urban machen, | |
| in denen bis dahin nur Nomaden unterwegs gewesen waren. Sie mussten in | |
| geschlossenen deutschen Kolonien leben, den Schulunterricht für ihre Kinder | |
| selbst organisieren und sollten sich nicht kulturell und sprachlich | |
| integrieren. | |
| Bereits in den letzten Jahren des Zarismus, stärker aber noch während der | |
| Sowjetunion, gingen die Privilegien verloren. Das zeigt das düstere | |
| Kellergeschoss des Museums, das für das 20. Jahrhundert steht. Ab 1874 | |
| mussten Russlanddeutsche Wehrdienst leisten. In den 1920er und 1930er | |
| Jahren wurden die deutsche Hochschule an der Wolga und viele deutsche | |
| Schulen im ganzen Land geschlossen. Lehrer, Pfarrer und andere deutsche | |
| Intellektuelle, Ens nennt sie die „Erzähler der Minderheit“, wurden | |
| erschossen oder in Lager verbannt, die Community damit ihrer Kultur | |
| beraubt. | |
| Etwas, was bis heute durchschlägt, sagt Ens. Denn viele Russlanddeutsche, | |
| die heute in Deutschland lebten, würden die Geschichte ihrer Community | |
| nicht kennen, sie kämen mit vielen Fragen ins Museum. „Wenn wir homogen | |
| russlanddeutsche Besuchergruppen haben, dann wird hier viel geweint.“ | |
| 21 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marina Mai | |
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