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# taz.de -- Russlanddeutsche und Sprache: Der Zu-spät-Aussiedler
> Der Vater unserer Autorin ist Russlanddeutscher, in der deutschen Sprache
> aber fasste er nie Fuß. Eine Geschichte über das Missverstandenwerden.
Bild: Unsere Autorin mit ihrem Vater, 2005
Schwer wiegt sie, die tiefe, dunkle, geheimnisvolle russische Seele, die
beneidet, bekämpft, belächelt worden ist. Die ein Märchen ist, weil die
Russen Märchen lieben. An der nichts dran ist, und die ganz genauso stimmt.
Die ein Widerspruch ist, den man verstehen will, aber nicht immer kann. Die
russische Seele will auch meistens gar nicht verstanden werden; sie ist
eine Fremde, ein Mysterium. Sie wird viel missverstanden und [1][verdreht,
verkannt und missbraucht]. Auch von den Russen selbst.
Ob die Seele meines Vaters so richtig russisch ist – das kann ich nicht
beurteilen. Aber mit dem Unverstandensein und Nichtverstehen kennt er sich
aus. Die russische Seele wiegt schwer, die deutsche Sprache noch viel mehr.
Als wir im Winter 2003 hierherkamen, ich war damals drei Jahre alt, konnte
mein Vater fast kein Wort Deutsch. In der Heimat hatte er mit russischen
Wälzern in der Hand getanzt und war im fließenden Übergang vom britischen
Humor eines Charles Dickens zu späteren Dad-Jokes gesteppt.
In der Fremde wurde er sprachlos, aber es hielt ihn nicht vom Reden ab. Die
ganzen Papiere. Behörden. Meine Mutter schwanger mit der zweiten Tochter.
Ärzte. Jobs. Sehr viele Jobs, sehr viele schlechte Jobs.
Und trotzdem redete er einfach drauf los, mit den paar Vokabeln und der
mein Gott wie verwirrenden deutschen Grammatik. Mein Vater war noch jung
und sehr aufgeregt, manchmal im Guten, oft im nicht so Guten. „Wir sind
Zu-spät-Aussiedler“, sagte er zu meiner Mutter.
## Böser-Boris-Blick
Oft gab es Missverständnisse, wenn mein Vater mit jemandem Deutsch reden
musste – und dadurch auch einige Situationen, die in unserer Familie bis
heute immer wieder für Lacher sorgen: Im Heim für Spätaussiedler, ganz am
Anfang. Mein Vater kommt ins Büro eines Sachbearbeiters. Er hat eine Frage,
der Mann soll ihm und meiner Mutter weiterhelfen. Mein Vater verdreht die
Worte, er sagt: „Wir können Ihnen helfen.“ Böser-Boris-Blick, unbewusst,
auch so ’n Russending. Der arme Mann schaut ihn an und denkt sich
wahrscheinlich, dass es eine Drohung ist.
Beim Frauenarzt, etwas später. Mein Vater kommt rein, meine Mutter sitzt
da, wie man so dasitzt. Mein Vater ist überfordert und nervös. Er blickt
den Arzt an und sagt in einem überraschend selbstbewussten Ton: „Auf
Wiedersehen!“ Nach der Begrüßung setzt er sich auf den Stuhl und wartet.
Bei der Frisörin, viele, viele Jahre später. Er macht keinen Small Talk,
klar, Russending. Seit Jahren geht er zu dieser Frisörin. Man lässt sich
die Haare schneiden und schweigt dabei, und dann ist gut. Aber eines Tages
kommt eine Frau rein, will einen Termin, die Frisörin kümmert sich kurz um
sie. Mein Vater hört, dass die Frau sich einen Pony schneiden möchte. Er
ist verwirrt und überlegt fieberhaft. Er redet nie mit seiner Frisörin.
Aber es lässt ihm keine Ruhe. Als sie wieder an seinen Haaren ist, nimmt er
seinen Mut zusammen, vermischt mit einer Portion Ratlosigkeit, und fragt
sie, seit wann sie Pferdehaare schneide.
Sie versteht ihn nicht. Er sagt: „Na – Pony. Kleines Pferdchen!“
Entgeisterte Frisörin. Sie muss einem 40 Jahre alten Mann erklären, dass
ein Pony auch eine Frisur ist. Er schweigt für den Rest des Termins. Sie
verabschieden sich. Kurz danach schließt die Frisörin ihren Salon. Bis
heute glaubt mein Vater, dass er sie dazu inspiriert hat, ihrer
Leidenschaft fürs Pferdehaareschneiden nachzugehen – einer Leidenschaft,
von der sie bis dahin selbst nichts wusste.
Mein Vater war Ende 20, als er nach Deutschland kam, eine neue Sprache zu
lernen fiel ihm schwer. Er ging zum Sprachkurs. In den Examen sprudelten
die Sätze nur so aus ihm raus, seine Lehrerin musste ihn stoppen. Er wurde
Klassenbester, im Lokalblatt erschien sein Foto.
## Leergefegtes Vokabular
Er schickte es seinen Eltern, die in Russland geblieben waren. Meine
Schwester und ich hatten als Kinder viel zu lachen mit dem Sprachparcours
meines Vaters. Jahrelang schuftete er in einer Fabrik, in der die meisten
Kollegen Ausländer waren – vor allem Russen. Deutsch wurde fast nicht
gesprochen und wenn, dann dieses herrlich gebrochene, pragmatische
Halbsatzdeutsch.
Mit 45 Jahren wechselte mein Vater den Arbeitgeber. Das neue Unternehmen
beschäftigte fast nur Deutsche; es sprach sich rum, dass man als Ausländer
nur schwer einen Job bekam. Mein Vater schaffte es, doch vom ersten Tag an
begleitete ihn Angst. Angst, etwas falsch zu machen. Angst, nicht schnell
genug die neuen Aufgaben zu lernen. Und vor allem eine ungeheuerliche Angst
davor, in der Mittagspause von einem Kollegen angesprochen zu werden.
Mein Vater hatte über die Jahre erneut seine Sprache verloren. Deutsch
sprach er nur in den unvermeidlichen Situationen, im Supermarkt oder wenn
ein Handwerker vorbeikam. Er hörte deutsches Radio und schaute deutsche
Nachrichten. „Aber sobald ich selbst zu sprechen begann, kam aus meinem
Mund nichts Verständliches raus“, erinnert er sich heute.
Da saß er nun mit Mitte 40 am Pausentisch seines neuen Arbeitgebers und war
– geschockt. Darüber, dass seine Sätze noch brüchiger, sein Vokabular noch
leergefegter war, als er befürchtet hatte.
Und er war frustriert. Wenn mein Vater nach der Schicht nach Hause kam,
blieb er beim Essen für sich. Sprach kaum über die Arbeit. Verschwand ins
Wohnzimmer und spielte Playstation. Deren Systemsprache stellte er eines
Tages auf Deutsch um. Genauso schlagartig flatterten Buchbestellungen rein,
deutsche Bücher, Remarque und Rilke.
Wir freuten uns darüber, dass unser Vater Netflix abonnierte. Erst später
bemerkte ich, dass er gezielt Serien auf Deutsch schaute. Manchmal mit,
manchmal ohne Untertitel.
## Über Wasser halten
Mein Vater hatte der Sprachlosigkeit erneut den Kampf angesagt. Vor knapp
20 Jahren hatte er keine Wahl gehabt. Dieses Mal hatte er sich bewusst
dafür entschieden, sich aus seiner Komfortzone rauszuzwingen. „Das war der
letzte Waggon eines vorbeirasenden Zuges, auf den ich noch aufspringen
konnte“, sagt er. Der Zug war nur vordergründig die deutsche Sprache – viel
mehr war es ein Gefühl des Ankommens in einem Land, das mein Vater nie als
seine Heimat bezeichnen würde. Aber vielleicht auch nicht länger als eine
Fremde.
Wirklich willkommen, sagt mein Vater, fühlte er sich beim ersten
Schichtfest. Fließt Alkohol, versteht man sich plötzlich – das gilt für uns
Russen wie auch für Deutsche. Heute, nach über drei Jahren, sagt mein
Vater, hätten sich seine Kollegen an ihn gewöhnt, verstünden ihn. Die
Angst, die ihn früher auf dem Weg zur Arbeit begleitete, ist Lockerheit
gewichen. „Und ich rede Deutsch jetzt vielleicht zwei Prozent besser als
davor.“
Als mein Onkel vor einigen Monaten bei demselben Arbeitgeber anfing, konnte
ihm mein Vater gleich ein paar Tipps mitgeben: Glaub nicht, die Leute dort
sind so viel anders als du – am Ende sind wir alle Kollegen. Sag immer, du
willst etwas selbst machen, dann lernst du es schneller. Such dir einen
Ansprechpartner, finde eine Fahrgemeinschaft.
„Ich halte mich gerade so über Wasser“, sagt mein Vater während unseres
Gespräches, hält sich eine Hand unter sein Kinn, reckt das Gesicht nach
oben und lacht. Bis heute hat er immer mal wieder diese Momente der
Unsicherheit, klar, und dann rutscht auch schon mal der falsche Artikel
raus, oder aus Sommersprossen wird Sprossensommer.
Als Kinder fanden meine Schwester und ich das lustig: klassischer Papasatz!
Aber heute erahne ich den Schmerz meines belesenen, allwissenden Vaters,
wenn er sagt: „Ich habe oft das Gefühl, eingeschränkt zu sein, wenn ich
Deutsch rede. Ich kann meine Gedanken nicht so formulieren, wie ich es
möchte.“
Auf Russisch geht das problemlos. Irgendwann in unserem Gespräch sagt mein
Vater: „Sprache unterscheidet uns von Tieren. Für den Menschen existiert
nichts, was er nicht in Worte fassen kann.“ Und das ist ebenfalls ein
klassischer Papasatz.
## Die hohe Kunst des Fleischgrillens
Dass ich die deutsche Sprache nicht nur fließend spreche, sondern sie als
Journalistin zu meinem Beruf gemacht habe, erfüllt meinen Vater mit Stolz.
Vor Kurzem wurde einer meiner Texte in einem Magazin abgedruckt. Eigens für
seine Arbeit hat mein Vater eine zusätzliche Ausgabe gekauft und sie dort
im Mittagsraum ausgelegt.
Diesen Stolz verspürt er auch, wenn meine Schwester und ich auf Netflix
US-Serien im Original ansehen, oder ich im Familienurlaub in Frankreich das
bisschen Schulfranzösisch einsetze. „Ich habe in diesen Momenten das
Gefühl, dass sich alles in meinem Leben richtig gelegt hat. Ihr seid
weitergekommen als eure Eltern – und genau so gehört es sich.“ Mein Vater
lächelt bei diesen Sätzen wie ein Mensch, der so etwas wie Seelenfrieden
gefunden hat.
Ach ja, da war doch noch was mit der Seele.
Ob die Seele meines Vaters so richtig russisch ist – das kann ich nicht
beurteilen. Aber mit dem Unverstandensein und Nichtverstehen kennt er sich
aus. Ebenso damit, die Welt um sich herum besser zu verstehen, indem er –
zumindest langsam – ein Teil von ihr wird. Ohne eine gemeinsame Sprache
funktioniert das wohl nicht. Aber man muss ja nicht nur reden. Haben meinem
Vater deutsche Bücher und Netflix geholfen? Sicher. Nicht weniger jedoch
das Biertrinken mit den Kollegen nach Feierabend, Schichtfeste und
Gespräche über die hohe Kunst des Fleischgrillens.
Die russische Seele wiegt schwer, das Ankommen in der Fremde noch viel
mehr.
17 Sep 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Maria Mitrov
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Sprache
Russland
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