# taz.de -- Dokumentation im SWR: Mär der „bösen Russlanddeutschen“ | |
> Der SWR zeigt eine Doku, die Stereotype über Russlanddeutsche verfestigt. | |
> Mit anderen legt unsere Autorin Beschwerde beim Rundfunkrat ein. | |
Bild: Russlanddeutsche Aussiedler im Aufnahmelager Unna, 1996 | |
„Wie fandet ihr die SWR-Doku über Russlanddeutsche?“, will ich von meinen | |
Eltern wissen, als wir zusammen in ihrer Küche sitzen. „Na ja“, sagt meine | |
Mutter zögernd. Sie will erst vorfühlen, wie ich sie fand. Denn neben | |
anderen Aussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion wurden auch meine | |
Geschwister und ich in dem Film gezeigt, der am 13. Juli unter dem Titel | |
„Russlanddeutsche – unsere fremden Nachbarn? Bilanz einer schwierigen | |
Integration“ lief. Als ich antworte: „Sie war grauenhaft“, legt mein Vater | |
los: „Jetzt denken die Nachbarn doch wieder, dass wir kein Deutsch können, | |
AfD wählen und Putin gut finden!“ | |
Genau diese Vorurteile befeuert die aktuelle Doku des SWR: Sie stellt | |
Russlanddeutsche in einer tendenziösen Weise dar, gewichtet Themen mit | |
verzerrender Wirkung und vermischt unzulässig Aspekte wie die Kriminalität | |
russlanddeutscher Jugendlicher vor 20 Jahren mit dem [1][Kreml’schen | |
Propagandakrieg] heute. Weil die Produktion zudem falsche Informationen | |
zu russlanddeutscher Geschichte sowie fehlerhafte Angaben zu Studiendaten | |
enthält, habe ich mit über 100 Menschen ein Beschwerdeverfahren beim | |
Rundfunkrat eingeleitet. Dabei sind Menschen mit und ohne russlanddeutscher | |
Migrationsgeschichte – darunter Ministerpräsident a. D. Christoph Bergner | |
(CDU), der Osteuropahistoriker Hans-Christian Petersen und Johann Thießen, | |
Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. | |
Natalie Keller (Grüne), Stadträtin in Nürnberg und | |
Antidiskriminierungsreferentin, und ich haben die Beschwerde initiiert. Sie | |
ist ein Novum für die rund drei Millionen Menschen in Deutschland, die | |
einen russlanddeutschen Aussiedler- oder Spätaussiedlerstatus haben. | |
Bislang hat sich die Gruppe nicht öffentlich gegen ihre diffamierende | |
Darstellung in den Medien gewehrt. Jetzt ist das Fass übergelaufen. | |
Nach mehreren Dokumentarfilmen in den vergangenen Jahren, die | |
Russlanddeutsche auf ihre angebliche [2][Nähe zu Putin und der AfD | |
reduziert darstellten], beherrscht seit Ausbruch des russischen Krieges | |
gegen die Ukraine erneut dieses Bild die Medien. Auch der Film des SWR | |
bedient diese Klischees. Direkt im Einstieg hört der Zuschauer: | |
„Russlanddeutsche. Sie wohnen bei uns. Sie arbeiten bei uns. Aber gehören | |
sie wirklich dazu?“, und sieht dazu Bilder von aggressiv wirkenden Männern, | |
die Russland-Fahnen schwenken – diese unjournalistische | |
Wort-Bild-Verknüpfung gibt einen Rahmen für die folgenden 45 Minuten vor. | |
Gezeigt wird beispielsweise Tatjana Schavoronkov, die nach 27 Jahren in | |
Deutschland kein Deutsch spricht, orthodoxen Glaubens ist und deren | |
Familienangehörige sich als „wir Russen“ und Befürworter Putins | |
positionieren. Auch gedenken sie in dem Film am 9. Mai, dem von Putin | |
wiederbelebten Tag des Sieges über Nazideutschland, ihrer Angehörigen, die | |
aufseiten der Sowjetunion am Zweiten Weltkrieg teilnahmen. | |
Natürlich gibt es Putinfans unter Spätaussiedlern, genauso wie es sie unter | |
Deutschen ohne Migrationsgeschichte gibt. Unsere Beschwerde richtet sich | |
auch nicht dagegen, dass Menschen mit unterschiedlichen politischen | |
Einstellungen gezeigt werden. Als Gegenbild zu Familie Schavoronkov kommen | |
meine Geschwister und ich zu Wort, die den Krieg gegen die Ukraine | |
verurteilen und demokratische Grundwerte vertreten. | |
## Die Dokumentation suggeriert Extremismus | |
Die Hauptkritik, die unserer Beschwerde zugrunde liegt, ist eine andere: | |
Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Russlanddeutschen ist [3][laut | |
Sachverständigenrat für Integration und Migration] gut integriert, | |
beherrscht die deutsche Sprache, ist evangelisch oder katholisch. In den | |
seltensten Fällen haben Russlanddeutsche Verwandte, die in der Roten Armee | |
gekämpft haben. Russlanddeutsche standen damals nämlich unter dem | |
Generalverdacht, Kollaborateure des Hitlerregimes zu sein, und wurden unter | |
Stalin in Arbeitslagern und Deportiertensiedlungen gefangen gehalten. Erst | |
1964 wurden sie zum Teil rehabilitiert, erlebten aber bis in die | |
Perestroikazeit systematische Diskriminierung. | |
Diese für Russlanddeutsche typischen kulturellen Prägungen und | |
Kollektiverfahrungen scheinen aber nicht Teil der Geschichte von Familie | |
Schavoronkov zu sein, die der Doku jedoch einen roten Faden gibt. Es kommt | |
stellenweise der Eindruck auf, dass die Macher sich nicht genügend mit | |
russlanddeutscher Geschichte beschäftigt haben. | |
Mit den daraus resultierenden inhaltlichen Fehlern verstößt die Doku | |
unserer Auffassung nach gegen den SWR-Medienstaatsvertrag, der eine | |
gewissenhafte Recherche fordert. Auch bricht sie unserer Überzeugung nach | |
das Gebot der journalistischen Fairness und Ausgewogenheit. Ihr hätte es | |
nämlich entsprochen, wenn nicht allein politisch aktive Russlanddeutsche | |
gezeigt worden wären, die in der AfD engagiert sind. Schließlich sind | |
Russlanddeutsche in allen im Bundestag vertretenen Parteien aktiv, wie die | |
Bundesaussiedlerbeauftragte Natalie Pawlik in der SPD. Durch den Fokus auf | |
die rechtsgerichtete Partei wird das Vorurteil gefestigt, dass | |
Russlanddeutsche häufig deren Wähler sind. | |
Gleichzeitig verschweigt die Dokumentation, dass laut einer Studie [4][85 | |
Prozent der Russlanddeutschen die AfD nicht wählen], behauptet aber, dass | |
sie sich verstärkt für die „extreme Linke“ entscheiden, und suggeriert | |
damit einen Extremismus der Russlanddeutschen. Es wird gegenüber dem | |
Zuschauer verschleiert, dass damit die Partei Die Linke gemeint ist. | |
Wir Beschwerdeinitiatorinnen sind überzeugt, dass der SWR insgesamt mit | |
seiner Doku einen weiteren Punkt aus dem Medienstaatsvertrag bricht, wonach | |
der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Zusammengehörigkeit in Deutschland | |
fördern soll. Unserer Auffassung nach zeichnet die Dokumentation ein Bild | |
von einer in Deutschland lebenden Gruppe als Träger fremder, feindlicher | |
Einflussnahme – durch die russische Politik nämlich. In Zeiten | |
geopolitischer sowie ideologischer Kämpfe, wie sie gegenwärtig Deutschlands | |
Verhältnis zu Russland prägen, gefährdet der Sender damit den Zusammenhalt | |
unserer Gesellschaft. | |
Als ich meinen Eltern von unserer Beschwerde erzähle, meinen sie: „Richtig | |
so.“ Und ich fühle mich integrierter denn je nach 30 Jahren in Deutschland | |
– als ein Teil gelebter Demokratie. | |
26 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Russlands-Mediensystem/!5850570 | |
[2] /Studie-zu-Spaetaussiedlerinnen/!5845620 | |
[3] https://www.svr-migration.de/publikationen/integration-von-spaetaussiedlern/ | |
[4] https://de.statista.com/infografik/13163/wahlverhalten-von-deutschtuerken-u… | |
## AUTOREN | |
Irina Peter | |
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Schwerpunkt Rassismus | |
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