# taz.de -- Auf der Suche nach Heimat: Trautchens Heim | |
> Unsere Autorin ist mit ihrer Familie in ein altes Haus auf dem Land | |
> gezogen. Wer waren die Menschen, die vor ihr dort lebten? Eine | |
> Spurensuche. | |
Bild: Ohne den Blick auf die Kirche wären sie vielleicht nicht in das Haus gez… | |
Im ersten Sommer, den Trautchen nicht mehr erleben darf, fahren die Vögel | |
die gesamte Sauerkirschernte ein. Ich kenne Trautchen da noch nicht, ich | |
höre es später von den Nachbarn. Zum ersten Mal begegnet sie mir in den | |
Kleingartenparzellen von Marlies und ihrer Schwester, die hinter dem alten | |
Dorfkern liegen und in einer Sackgasse ans Seeufer enden. | |
Den Zaun, der die beiden Grundstücke trennen sollte, haben die Rentnerinnen | |
entfernt und stattdessen in der Mitte einen großen Gartentisch mit | |
Wachstuch und Stühle aus Plastik aufgestellt. Ich stelle mich vor, wir sind | |
die neuen Nachbarn, Haus an der Dorfkirche. Die zwei Frauen wissen sofort, | |
um welches Haus es geht. Es gehörte ihrer engen Freundin. | |
Sie erzählen mir über den Zaun ihres Kleingartengrundstücks unvermittelt: | |
„Wir haben versucht, es ihr schonend beizubringen, aber Trautchen wollte es | |
bis zum Schluss nicht hören. Ihr Keller war zu feucht geworden, und die | |
Blumenzwiebeln, die wir zum Überwintern dort lagerten, verschimmelten. So | |
ging das schon seit Jahren. Jeden Frühherbst fing Trautchen mit ihren lieb | |
gemeinten Angeboten an, es sei doch so viel Platz im Keller und auch im | |
Haus.“ Das ganze Haus habe ja leer gestanden. | |
Das Haus mit dem feuchten Keller gehört jetzt uns. Wir, das sind zwei mehr | |
oder weniger junge Millennials, geboren in den 1980er Jahren. Und unsere | |
beiden Kinder. Das Haus steht in Kablow, einem kleinen Dorf südöstlich von | |
Berlin. Dieses Haus war das letzte Zuhause von Trautchen, Jahrgang 1936. | |
Trautchens eigentlicher Name war Gertraud, aber so nannten sie nur Fremde. | |
Für alle anderen war sie Mutti, Oma, Trautchen. | |
Eigentlich haben wir gar kein Haus gesucht. Wie viele Familien während der | |
Pandemie waren wir es aber irgendwann leid, auf den Spielplätzen in Berlin | |
an den Schaukeln anzustehen und zu warten, bis die Kleine mal dran ist. Und | |
auch schon in den Jahren zuvor immer wieder die Frage: Wie dem Berliner | |
Sommer entfliehen mit seiner stehenden Gluthitze, dem Asphalt und den | |
Hauswänden, die wie zusätzliche Heizpilze ihre Wärme verstrahlten? | |
Was einst als ein vager Traum anfing, wurde mit jedem Lockdown, jeder | |
Quarantäne eine Gewissheit: Wir brauchen einen kleinen grünen Flecken mit | |
Luft als Zufluchtsort. Vielleicht ein Wochenendgrundstück? Vielleicht sogar | |
in Seenähe? Im wasserreichen Umland von Berlin ist das kein allzu | |
vermessener Wunsch. Dann flatterte eine Anzeige über ein | |
Immobiliensuchportal ins E-Mail-Postfach. Sie setzte uns freundlicherweise | |
davon in Kenntnis, dass wir ein Haus wollen. Nicht irgendeines, sondern | |
diesen Altbau in Kablow, mit Ochsenblutdielen, einem winzigen Garten mit | |
nur zwei Obstbäumen, Apfel und Sauerkirsche, und einem ehemaligen Stall, | |
dem man seine einstigen tierischen Bewohner noch deutlich anriecht. | |
Weil Kablow ein kleines Dorf ist, wissen alle, wie viel wir für das Haus | |
bezahlt haben. Die meisten Nachbarn fragen zuerst: Wann zieht ihr ein? Wir | |
sagen: nach der Sanierung. Dann fragen sie: Seid ihr Berliner? Wir sagen: | |
Ja. Obwohl der Vater meiner Kinder Israeli ist und ich mit neun Jahren aus | |
Kasachstan nach Deutschland gekommen bin. Streng genommen sind wir beide | |
nicht mal Deutsche. Aber in Kablow sind wir nicht nur eindeutig Berliner, | |
wir sind sogar ein wandelndes Klischee davon: [1][junge Leute, die | |
Brandenburger Häuser kaufen], deren Sanierung sich die Brandenburger selbst | |
nicht mehr leisten können und damit die Häuser ebenfalls nicht. | |
Auf das „Berliner in einem Brandenburger Dorf sein“ waren wir vorbereitet. | |
Worauf wir nicht vorbereitet waren: in die Fußstapfen von Trautchen zu | |
treten und uns in über hundert Jahre deutsche Familiengeschichte | |
einzureihen. | |
An der Mauer neben der Eingangstür zum Garten klebt eine glänzend polierte | |
Plakette. Sie fasst den Schlitz zum Briefkasten. Auf ihr steht in | |
schwarzen, geschwungenen Lettern „W. Schmohl“, darunter die Hausnummer 26. | |
Der Name begegnete uns schon bei einem unserer ersten Spaziergänge durch | |
das Dorf. Kablow ist ein Angerdorf. Weil ich in eine Welt geboren wurde, in | |
der Anger keine Rolle spielen, lerne ich: es ist eine Wiese in der | |
Dorfmitte, die die Menschen früher für alles Mögliche nutzten. Sie trafen | |
sich dort, ließen ihre Tiere auf der Wiese weiden. | |
Auf der Angerwiese in Kablow stehen Ulmen, Eichen und Kastanien. Manche | |
davon sind über 300 Jahre alt. In ihrer Mitte steht eine Backsteinkirche. | |
Fertiggestellt: 1870. Mit gebrannten Ziegeln aus der ortsansässigen | |
Ziegelei, die heute eine Art Kulturzentrum ist. Fast alle Zimmer unseres | |
Hauses haben Blick auf diese Kirche. Wäre sie da nicht so erhaben | |
gestanden, hätten wir das Haus vielleicht nicht gekauft. Dabei glauben wir | |
gar nicht an den Gott, dem sie gewidmet ist. Ich denke, diese Kirche hat | |
überlebt: das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, die | |
Nationalsozialisten, die DDR, Trautchen. Sie wird auch uns und unsere | |
Kinder überleben. | |
Am Chor des Kirchenschiffs steht ein pfahlförmiges Denkmal aus Stein. | |
Darauf zu lesen: Namen von Menschen aus Kablow, die im Ersten und Zweiten | |
Weltkrieg umgekommen sind. Dreimal steht der Name Schmohl dort: Otto 1914, | |
Hermann 1915 und Karl 1916. Zwei Monate nach dem Termin beim Notar zum | |
Unterzeichnen des Kaufvertrags erhalten wir den Grundbuchauszug. Dort sind | |
die Vorbesitzer des Hauses vermerkt. Was das Kriegerdenkmal andeutet, | |
bestätigt uns der Grundbuchauszug: Das Haus hat schon immer der Familie | |
Schmohl gehört. Seit über 100 Jahren lebten in diesem Haus Menschen einer | |
einzigen deutschen Familie. | |
Als ich einmal mit einer Nachbarin Nummern austausche, sehe ich, wie sie im | |
Handy unter Vorname „Olga“ eingibt und unter Nachname „(schmohl)“. Für… | |
Menschen im Dorf trägt das Haus diesen Nachnamen und offenkundig, zumindest | |
noch, auch automatisch seine Bewohner. Mit jeder Begegnung mit Trautchen | |
und den Schmohls wächst in mir jedoch eine quälende Frage: Müsste ich nicht | |
so deutsch sein wie sie, um in diesem Haus richtig zu sein? Ich fühle einen | |
Stich, eine Art Wehmut: Trautchen und die Familie Schmohl scheinen etwas | |
gehabt zu haben, das in meiner Familie, so weit wir zurückblicken können, | |
nicht zugänglich ist: Heimat. | |
Trautchen ist die gleiche Generation wie meine Großeltern, die ebenfalls in | |
den 1930er Jahren geboren wurden. Weil alle meine Großeltern als [2][Teil | |
einer deutschen Minderheit in Ländern der ehemaligen Sowjetunion] geboren | |
wurden, befindet sich unsere gesamte Familie auf der formal richtigen Seite | |
der Geschichte: die der Opfer. Die Gewissheit, keinen Nazi-Opa zu haben, | |
wurde uns vom Schicksal jedoch sehr teuer in Rechnung gestellt. Ein kleiner | |
Auszug: | |
Opa Paul Stauch: 1925 als Wolgadeutscher in Russland geboren, im Alter von | |
17 Jahren ins Arbeitslager mit den Eltern deportiert, dort in einem | |
Schwarzkohleschacht unter Tage gearbeitet, bis er es schaffte zu fliehen | |
und sich fortan unter dem Namen Pavel Serikow als Russe auszugeben. 1943 | |
scheint ihm das stalinistische Regime auf die Schliche gekommen zu sein, er | |
ist einfach verschwunden. Ab dem Moment gibt es in seinem Leben eine Lücke | |
von zehn Jahren. Als Stalin 1953 starb, kehrte er zu seiner Familie zurück. | |
Am allerwahrscheinlichsten aus einem Gefängnis. Dieses Geheimnis hat er für | |
immer für sich behalten. | |
Oma Erna Schönhals: 1933 in einer deutschen Siedlung in Kasachstan geboren. | |
Während ihrer Kindheit und Jugend so lange und so stark gehungert, dass | |
sie, als es dann wieder Essen gab, gar nicht mehr aufhören konnte. Das | |
ständige und reichhaltige Essen führte zu Diabetes. Der wiederum dazu, dass | |
ihr erst ein Bein, dann ein zweites Bein amputiert werden musste. Mit | |
beiden Beinen lag ihr Rekordgewicht bei 113 Kilogramm bei 1,55 Meter Größe. | |
Opa Eduard Herschel: 1930 in Wolhynien in der Ukraine geboren, die | |
schlimmste Hungersnot der sowjetischen Geschichte, den [3][Holodomor], | |
überlebt, nur um 1941 mit der Mutter und vier Geschwistern in Viehwaggons | |
nach Kasachstan deportiert zu werden. Für die Strecke von über 4.800 | |
Kilometern hat der Zug über sechs Wochen gebraucht. Weil meine Urgroßmutter | |
Gerda ihre fünf Kinder nicht ernähren konnte, überließ sie meinen Opa im | |
Alter von sieben Jahren einem Hirten als Gehilfe. | |
Oma Amalia Singer: 1933 in Baku in Aserbaidschan geboren. Im Alter von acht | |
Jahren nach Kasachstan deportiert. Ich erinnere mich, wie diese Oma | |
versucht hat, mir von ihrer Not auf dem Transport zu berichten. Sie waren | |
seit Wochen unterwegs. Sie hatten Durst. Der Zug hatte in der Steppe in | |
Turkmenistan gehalten. Da tauchte ein Kamel auf. Die Menschen im Zug hatten | |
irgendwo gehört, dass Kamele spucken, wenn man sie triezt. Also haben sie | |
und meine Oma genau das versucht: das Kamel geärgert, angeschrien, gelockt, | |
in der Hoffnung, es würde spucken und ihnen so wenigstens einen Tropfen | |
Wasser überlassen. | |
Ich erinnere mich, wie meine Oma am Ende dieser Geschichte ärgerlich | |
fragte: „Kannst du dir das vorstellen, wie sehr man Durst haben muss, dass | |
man die Spucke eines Kamels trinken möchte?“. Ich konnte es mir nicht | |
vorstellen. Ich konnte nicht mal ansatzweise die Tragweite der Geschichte | |
verstehen. Ich war sieben Jahre alt. | |
Es scheint ein Gesetz zu sein, dass wir uns erst für unsere Wurzeln | |
anfangen zu interessieren, wenn unsere eigene Endlichkeit am Horizont | |
auftaucht. Bei mir ging dieser Prozess mit der Geburt meines Sohnes los. | |
Auf einmal fing das Bild von dem, was von mir bleiben wird, an, Gestalt | |
anzunehmen. Das Leben, das nach meinem Tod weitergehen würde, hatte ein | |
Gesicht bekommen, das meinem unwahrscheinlich ähnlich sieht. Das Haus in | |
Kablow machte es mir endgültig unmöglich, die Frage nach der Bilanz am Ende | |
meines Lebens weiter ins Unterbewusste zu schieben. Wird dieses Haus zur | |
letzten Station meines Lebens, so wie für Trautchen? | |
Mein Vater hat sich die Mühe gemacht, einen Stammbaum für unsere Familie zu | |
recherchieren und aufzuzeichnen. Dort stehen Namen, Geburtstage und -jahre, | |
Geburtsort und die gleichen Angaben auch zum Tod, wo und wann. Ich kann | |
dort bis zu den Großeltern meiner Großeltern blicken, fünf Generationen von | |
mir entfernt. | |
Wenn ich all die Geburts- und Todesorte betrachte, denke ich unweigerlich | |
an Trautchen und die Schmohls. Wie viele Menschen sind heute noch so mit | |
ihren Wurzeln verbunden, dass sie am gleichen Ort sterben dürfen wie jenem, | |
an dem sie zur Welt gekommen sind? Erst bei meinen Ururgroßeltern, jenen, | |
die vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben sind, finden sich welche, denen | |
dieses Glück vergönnt war. | |
Um Antworten auf die Frage zu finden, wie ausgerechnet eine wie ich in | |
einem deutschen Dorf Wurzeln schlagen kann, will ich herausfinden, was die | |
Geschichte dieses Hauses ist. Ich rufe die ältere der zwei Töchter | |
Trautchens an. Wir treffen uns bei ihr zu Hause, einem Rotklinkerbungalow | |
direkt am Bahnhof von Kablow, nur 850 Meter von Trautchens ehemaligem | |
Zuhause entfernt. | |
Ich erfahre, dass Trautchen im acht Kilometer östlich gelegenen Nachbardorf | |
Friedersdorf geboren ist. Ihr Nachname war da noch Widiger. Trautchen hat | |
ohne ihren Vater aufwachsen müssen, weil dieser „im Krieg geblieben“ ist. | |
Sie hat in die Familie Schmohl eingeheiratet, die das Haus an der | |
Dorfkirche 1910 für sich erbauen ließ. Das „W.“ auf dem Messingschild zur | |
Eingangstür steht für Werner, Trautchens Mann. Trautchen lebte in dem Haus | |
noch 17 Jahre nach seinem Tod allein. | |
Wie war Trautchen? In den Erzählungen der Tochter erkenne ich vieles von | |
meinen Großeltern wieder. Die alten Menschen, die unermüdlich bis ins | |
höchste Alter körperlich schwer arbeiten, bloß niemandem zur Last fallen | |
wollen, ständig das Licht ausmachen, kaum hat man das Zimmer verlassen, um | |
Strom zu sparen. Genau wie bei meinen Großeltern hat auch in Trautchens | |
Leben Verzicht einen großen Platz eingenommen. Zuerst aus Not, zum Schluss | |
aus Gewohnheit. | |
Trautchen habe es jedem recht machen wollen, dafür dann auch mal | |
geflunkert: „Sag mal nischt, jibt Ärger.“ Der Garten war ihre große | |
Leidenschaft. Bei Spaziergängen in Parks habe sie Samen abgepflückt oder | |
gar Blumen ausgebuddelt. Peinlich, sagt die Tochter. Die letzten Jahre | |
zogen dann immer mehr Farne auf Trautchens Grundstück. Selbst die drei | |
Stufen hinunter zum Garten waren zu viel geworden. | |
Auch das Schweigen teilte sich Trautchen mit meinen Großeltern. Ich spreche | |
mit engen Freundinnen und Bekannten aus dem Dorf, mit Familienangehörigen, | |
mit einer Kindheitsfreundin aus Friedersdorf, zu der sie lebenslang Kontakt | |
gehalten hatte und die mit einem von Trautchens Cousins verheiratet war. | |
Alle bestätigen: Trautchen hat nie vom Krieg erzählt. | |
Sie war acht, als die [4][Rote Armee] in Friedersdorf einzog. Einige Jahre | |
vor ihrem Tod hat Trautchen von ihren Enkelkindern eine Art Tagebuch zum | |
Ausfüllen bekommen. „Oma, erzähl’ mal“ steht auf dem Einband. Dort schr… | |
sie hinein: „1945 haben wir mit einem Soldatentreck Friedersdorf verlassen | |
(Krieg). Sehr lange unterwegs nach Schleswig-Holstein. Geschlafen im Wald | |
unter den Autos. Es war sehr schlimm.“ | |
Nach Kablow habe Trautchen lange nicht ziehen wollen. Sie lebte mit Werner | |
und ihren Töchtern im benachbarten Königs Wusterhausen. Nicht solange | |
Schwiegermutter noch am Leben ist, das war ihre Bedingung, und sie hat sich | |
durchgesetzt. | |
Sparsam seien Trautchens Schwiegereltern, Emma und Wilhelm Schmohl, | |
gewesen. Deren politische Haltung in den Nazi-Jahren? Kann keiner mehr | |
erinnern. Was alle noch wissen: Selbstversorger, viel im Keller gesessen, | |
da war die Kohleheizung und die Küche. Die gute Stube oben war nicht für | |
den Alltag, nur für die Feiertage, Weihnachten allen voran. | |
Die Schmohls waren über Generationen jene im Dorf, die den Ziegenbock | |
besaßen. Wenn die Ziegen zum Decken gebracht wurden, sammelten sich die | |
Kinder des Dorfes am Zaun, um zu verstehen, wie das geht, Kinder machen, | |
wenn auch nur auf Ziegenart. | |
Ihr erstes Kind, eine Tochter, haben sie früh an die Diphtherie verloren. | |
Die Zweitgeborene habe eine „Kopfgrippe“ gehabt und als Erwachsene in die | |
Anstalt in Teupitz ziehen müssen. Am Ende blieb nur Werner, der nach der | |
harten Arbeit auf dem Bau jeden Tag noch zur Mutter fuhr, um mit der | |
Hausarbeit und den Tieren auszuhelfen. | |
Von der DDR merkten die Schmohls nicht allzu viel. Für Emma Schmohl, die | |
viele Jahre Witwe war, bedeutete es schlicht weiterhin, mit über 80 Jahren | |
und gebuckelt, den schweren Handwagen zum Gemüseacker zu ziehen. Mit Jauche | |
hin, mit Rüben für die Nutztiere zurück. | |
Im Februar dieses Jahres erhalte ich ein Päckchen, das ich kurz nicht | |
zuordnen kann. Als ich es aufmache, sehe ich zuerst die Rechnung: 212,00 | |
Euro. Rechnungssteller: Pummbären Bärenklinik. Die Rechnung hatte ich schon | |
im Herbst des Vorjahres beglichen, bis zum Termin zur Einsendung hieß es | |
dann noch drei Monate warten. In den zwei Monaten seiner Reparaturreise | |
hatte ich es ganz vergessen. Die Teddybärärztin nennt es Lämmchen, meine | |
Familie war sich aber schon immer sicher, dass es ein Ziegenkind ist. Es | |
heißt genau so: „Kosljonok“, Zicklein auf Russisch. | |
Gekauft in der Sowjetunion von meiner Großmutter Erna, in den 1990er Jahren | |
in einem Container von Kasachstan nach Deutschland gereist. 212,00 Euro für | |
ein Kuscheltier, das ich nicht mehr bekuscheln werde. Es steht nun auf | |
meinem Schreibtisch und zeugt davon, dass mein Gefühl des Fremdseins | |
vielleicht nie endgültig verschwinden wird, weil ich aus einer Welt stamme, | |
die es nicht mehr gibt. | |
Trautchen ist erst im Alter von 59 Jahren nach Kablow gezogen. Sie muss | |
sich hier am Anfang ebenfalls fremd gefühlt haben. Aber sie hatte Heimat | |
gefunden über die Verbindung zu den Menschen im Dorf, erzählt mir ihre | |
Familie. Am Ende ging alles ganz schnell und unerwartet. Ein harmloser | |
Routineeingriff, sagten die Ärzte. Komplikationsrate unter 5 Prozent. Die | |
Bauchschmerzen nach der Gallenblasen-OP gingen aber nicht weg. Am | |
Nachmittag nach der Entlassung wünschte sie sich noch Grießsuppe zur | |
Stärkung. Ein Kindheitsessen. Es war ihr letztes. | |
Was bleibt von uns nach einem abgelebten Leben, wenn das Gedächtnis an uns | |
selbst erlischt? Je mehr Menschen mir von Trautchen erzählen, desto mehr | |
fällt auf, dass vor allem der Anfang und das Ende ihres Lebens erinnert | |
werden. Trautchens Kindheit ist so wie für uns alle am Ende vor allem eine | |
Geschichte, die sie über sich selbst erzählte. Diese Geschichte hat | |
Trautchen an ihre Nachkommen weitergegeben. Das Ende ihres Lebens, ihre | |
letzten Jahre, ist das, was Trautchens Freunde, Familie und Nachbarinnen | |
noch eindrücklich vor Augen haben. Zwischen diesem Ende und dem Anfang | |
ihres Lebens scheint Trautchen, genau wie ich jetzt und andere junge | |
Eltern, auf der Autobahn aus Arbeit, Kindern und Haushalt unterwegs gewesen | |
zu sein. | |
Ich habe kein Foto von Trautchen zu sehen bekommen, aber das Bild, das ich | |
von ihr habe, ist deutlicher als alles, was sich mit einem Klick auf | |
Hochglanzpapier einfangen lässt. Aus den Filmen und den Büchern kenne ich | |
die Einsamkeit der Alten. Aber dass sie noch mehr Einsamkeit hinterlassen, | |
wenn sie gehen, das steht dort selten. Ein ganzes Dorf war mit Trautchen | |
befreundet, sah nach ihr, nahm Abschied, trauert und nennt sie immer noch | |
liebevoll beim Kosenamen. | |
Wir hatten ein Haus gesucht und stattdessen ein Dorf bekommen. Wir holen | |
einen Schraubenzieher. Es dauert zwei Minuten, bis wir die Plakette um den | |
Briefkastenschlitz loslösen. Bald wird da unser Name hängen und eine neue | |
26. | |
Um Wurzeln in ihrem alten Zuhause zu schlagen, lassen wir Trautchen und die | |
Familie Schmohl endgültig ausziehen. | |
5 Nov 2022 | |
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