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# taz.de -- Der Hausbesuch: Über Liebe redet man nicht
> Flora-Nadia Suciv lebt mit ihren drei Kindern in Essen. Sie sind Rom:nja.
> Jeden Tag ringen sie um Anerkennung. Und freuen sich auf Freundschaften.
Bild: Gruppenbild im Schlafzimmer: Die Roma-Familie Suciv lebt seit sechs Jahre…
Die drei Frauen und der Zehnjährige der Familie Suciv wollen mit Vornamen
angeredet werden. Weil Menschen, die sie besuchen, Freunde sind.
Draußen: Hollywood leuchtet in Altenessen. Die großen weißen Buchstaben
eines Schriftzuges am Dach eines Friseur- und Kosmetikstudios nicht weit
vom Marktplatz erinnern an das bekannte Schild in den Hollywood Hills. An
der Hauswand ist eine fenstergroße Schere montiert, die das nördlichste
Wohnviertel Essens rot beleuchtet. Und doch ähnelt es eher Bollywood.
Drinnen: Vorhänge und Gardinen hängen an den Fenstern in allen Zimmern –
farbig, prächtig und mit Perlen verziert. Die Wände im Zimmer der
Schwestern sind farbenfroh tapeziert mit blühenden großen Rosen in Rosa und
Silber. Auf dem Doppelbett liegt ein Kopfkissen in Herzform. Zwei
Nachttischchen mit Zebrastreifen stehen an den beiden Seiten des Bettes.
Küche: Wenn die Familie Suciv zusammenkommt, dann am liebsten in der Küche
– die 43-jährige Mutter Flora-Nadia mit ihren beiden Töchtern, der 19
Jahren alten Isabela (19) und der sieben Jahre jüngeren Marta-Maria sowie
dem zehnjährigen Sohn Cosmin-Dâniela. Um den Tisch herum ist auch genügend
Platz für Gäste. An der Wand hängt das Bild des vor einigen Jahren
verstorbenen Großvaters. Er hat sich mit der Familie damals auf den Weg
nach Deutschland gemacht.
Erstes Glück: „Ihr Scheiß-Zigeuner!“ Das haben alle in der Familie Suciv
schon gehört – in der U-Bahn, im Lebensmittelladen oder auf der Straße in
Essen. Sie sind Rom:nja aus Suceava, im Nordosten Rumäniens. Seit sechs
Jahren wohnen sie in Essen. „Die Wohnungssuche war schwierig“, sagt
Flora-Nadia. „Wir sind Roma, und die Menschen in Deutschland haben wenig
Vertrauen in uns.“ Das ist die bittere Wahrheit, leider. Doch die Familie
hatte Glück.
Die Macht der Sprache: Flora-Nadia redet in ihrer Muttersprache. Die
mittlere Tochter Marta-Maria übersetzt. Sie macht das oft im Alltag für
ihre Mutter und auch für die beiden Geschwister. Marta-Maria ist in der
fünften Klasse und kann am besten Deutsch. Sie wirkt selbstbewusst. Sie
kennt ihren Platz in der Mitte am Tisch. Nicht zum ersten Mal moderiert sie
Küchengespräche. Das ist die Macht der Sprache. Sie lächelt charmant und
mag, wenn sie das Sagen hat.
Die Geschwister: Ihre ältere Schwester bleibt fast immer zu Hause. Sie ist
hochschwanger. Es wird ein Mädchen. Sie kocht Kaffee. Der kleine Bruder hat
es sich auf dem blauen Ledersofa am Tisch gemütlich gemacht und isst
Salzstangen. „Bei mir ist alles gut“, sagt er und greift immer wieder nach
den Salzstangen. Er besucht die vierte Klasse und hat wenig Spaß an der
Schule, weil sein Deutsch nicht gut ist. „Wenn ich etwas nicht verstehe,
dann kommt die Lehrerin zu mir und versucht, es noch mal zu erklären. Aber
eben wieder auf Deutsch“, beschwert er sich. Doch mit seinen Schulkameraden
komme er klar. Jimi heiße sein bester Freund, mit ihm spiele er gerne
Videospiele.
Der Helfer: „Ohne diesen Mann hätten wir es nicht schaffen können“, sagt
Flora-Nadia. Der Mann, den sie meint, heißt Ezerdjan Idrizi. Er schaut
heute wieder bei der Familie vorbei und trinkt am Kopfende seinen Kaffee.
Der 47-Jährige ist selber Roma und koordiniert die Beratungsstelle
„[1][MifriN]“. Anders gesagt: Er kennt nahezu jeden Rom und jede Romni in
seiner Stadt. Seit Jahren kämpft er in Essen dafür, dass Rom:nja Wohnungen
und Jobs bekommen – und für vieles mehr. „Wir haben dagegen gekämpft, dass
Maria die dritte Klasse wiederholen sollte“, erzählt er. „Das Jahr war aber
nicht verloren.“ Idrizi wollte das Mädchen voranbringen und engagierte für
sie Nachhilfe. Marta-Maria hatte Erfolg und durfte von der Grundschule
sogar in die Realschule wechseln.
Bürokratie: Es gibt noch größere Herausforderungen als die Schule. Briefe
lesen und darauf reagieren. Und davon bekommt die Familie genug – vom
Jobcenter, von der Krankenkasse und der Hausverwaltung. Wenn Flora-Nadia
einen Weiterbewilligungsantrag für die Sozialhilfe stellen muss oder zu
Elterngesprächen eingeladen ist, geht sie mit den Schreiben zu Idrizi.
Job oder Schule? „Ich möchte selbst mein Geld verdienen“, sagt Flora-Nadia.
Und das hat sie jahrelang auch getan. Als Reinigungskraft hat sie in einem
Essener Unternehmen gearbeitet. Doch jetzt ist die Zeit des Lernens
gekommen. Sie besucht jeden Tag einen Deutschkurs. „Anstrengend“. Arbeiten
oder Lernen, das ist die Frage. Sie hat Schwierigkeiten beim Lernen, gibt
sie zu. Sie will am liebsten wieder arbeiten gehen. Idrizi widerspricht:
„Man kann nicht ordentlich lernen, wenn man nicht regelmäßig einen Kurs
besucht.“ Diese Erfahrung macht er bei vielen der Roma-Familien.
Die Macht der Sprache: Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Das
sagt auch Idrizi. Doch sein Argument, weshalb die Migrant:innen gut
Deutsch lernen müssen, klingt anders. „Wenn Rom:nja kein Deutsch sprechen,
werden sie ausgenutzt.“ Verkürzte Stundenangaben passierten am häufigsten.
Dass also weniger bezahlt wird, als gearbeitet wurde. „Auch landet man als
Reinigungskraft ohne Deutschkenntnisse öfter in kleinen Firmen, die noch
weniger bezahlen als die professionellen Reinigungsunternehmen.“
Flora-Nadia sei auch betroffen. Sie arbeitet vier Stunden, vom Arbeitgeber
werden aber nur zwei berechnet. „Migranten und Migrantinnen müssen Deutsch
lernen, um eigene Rechte verteidigen zu können“, wiederholt Idrizi.
Online kochen: Er hat noch einen anderen Plan. Er will Rom:nja digital
begleiten. Einmal in der Woche will er Frauen über Zoom zusammenbringen, um
ihnen die digitalen Werkzeuge beizubringen. Eine weitere Herausforderung
für Flora-Nadia. Sie lacht und bedeckt mit ihren Händen das Gesicht. „Ihr
werdet kochen, aber online“, sagt Idrizi. Und sie nickt.
Polizistin: Man redet wenig vor Fremden über die Probleme in der Familie.
Auch von den Träumen erzählt man nicht so gerne. Welche das sind?
Marta-Maria kennt ihre genau. „Ich will Ärztin werden oder noch besser
Polizistin“, sagt sie. Mit dem Beruf will sie Anerkennung in der
Gesellschaft erreichen. „Aber auch die schlechten Menschen ins Gefängnis
bringen“, sagt sie. „Diejenigen, die klauen, töten oder auch schlagen und
Menschen beleidigen.“ Ihr Bruder sagt: „Bei mir ist alles gut“, und strec…
seine Hand zum Teller mit den Salzstangen.
Liebe: Und die Träume der Mutter? „Dass meine Kinder gesund bleiben, ihr
Glück finden und gute Menschen werden.“ Und was ist mit der Liebe? „Über
Liebe redet man auch nicht. Sie gehört nur zum Herz“, antwortetet sie. Doch
macht sie einen Augenblick ihre Augen zu. Und ein Lächeln erscheint auf
ihrem Gesicht. Nun ist Marta-Maria neugierig und stellt stur dieselbe
Frage. „Mit Mama haben wir nie darüber geredet“, sagt sie. „Auch wenig �…
die Vergangenheit in Rumänien.“
Scham: Und wie ist die Mutter so? Ist sie streng? „Wenn wir schlechte Noten
in der Schule bekommen“, sagt Marta-Maria. Sie mache sich Sorgen um die
Schule. „Aber ich bin in Englisch sogar sehr gut, und deswegen schämt sich
meine Mutter für mich nicht mehr.“ Oft aber hätten sich die einzelnen
Familienmitglieder schämen müssen, weil sie nicht so wahrgenommen worden
seien, wie sie in Wirklichkeit sind. Doch wer muss sich eigentlich schämen,
meint Idrizi zu Recht. „Die Wohnung ist frisch renoviert, und es wäre
schade, wenn dort eine Roma-Familie wohnt“, das war nur eine von den vielen
Antworten, die er bei Wohnungsbesichtigungen gehört hat – ganz klar, sehr
deutlich und unverschämt. „Große [2][Vorurteile] und Ängste sind in der
deutschen Gesellschaft verankert“, sagt er.
Freundschaften: „Wir können in Essen nur etwas ändern, wenn wir miteinander
reden.“ Und Flora-Nadia sagt zum Abschluss: „Unsere Haustür ist für alle
offen, wir freuen uns auf neue Freundschaften.“
1 May 2022
## LINKS
[1] https://www.essen.de/leben/migration_und_integration/kommunales_integration…
[2] /Bericht-zu-Berliner-Antiziganismus/!5845693
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
## TAGS
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