# taz.de -- Der Hausbesuch: Glaube und Poesie in der Platte | |
> Andreas Knapp ist Priester, trägt aber kein kirchliches Gewand. Er | |
> schreibt Gedichte statt Predigten. Und lebt in einer Männer-WG in | |
> Leipzig-Grünau. | |
Bild: Ordensbruder Andreas Knapp in seiner WG. Privatbesitz gibt es nicht, hier… | |
Gemeinschaft pflegen und Konflikten nicht aus dem Weg gehen, sondern sie | |
aushalten, das ist Andreas Knapp wichtig. An einem sozialen Brennpunkt in | |
Leipzig lebt und engagiert er sich mit seiner Bruderschaft in der | |
Nachbarschaft für ein besseres Miteinander. | |
Draußen: Auf dem leeren Parkplatz vor dem fünfstöckigen Plattenbau steht | |
ein Einkaufswagen verlassen im Gestrüpp. Es ist still, nur ein paar Spatzen | |
zwitschern. Das Wohngebiet Leipzig-Grünau, das einst zu den größten | |
Plattenbausiedlungen der DDR zählte und in dem bis zur Wende 85.000 | |
Menschen lebten, wirkt nahezu unbewohnt. Aber der Eindruck täuscht. Auf | |
manchen Balkonen stützen Bewohnerinnen ihre Arme auf die Brüstung und | |
rauchen. An der Fensterbank ganz oben, wo die vier Männer der | |
[1][Bruderschaft der Kleinen Brüder] vom Evangelium wohnen, weht eine | |
Europafahne. | |
Drinnen: Vier Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher | |
Herkunft leben in den beiden oberen Stockwerken des Plattenbaus. Anders als | |
in vielen WGs ist es aufgeräumt, Geschirr oder Pfandgut stapeln sich nicht | |
in der Küche. Jeder hat ein eigenes Zimmer, und es gibt ein geräumiges | |
Wohnzimmer mit einem großen Bücherregal, einen Gebetsraum und ein | |
Gästezimmer mit selbst eingebauter Kochnische. „Damit sich Gäste | |
zurückziehen können“, sagt Knapp. Auf dem Bett liegen zwei gefaltete | |
Handtücher. Freunde einer syrischen Familie, zu denen die Bruderschaft | |
Kontakt hat, werden als Gäste erwartet. | |
Viel zu tun: Andreas Knapp ist sehr eingespannt. Seit 2015 setzt er sich in | |
seiner Nachbarschaft überwiegend für syrische Familien ein, die geflüchtet | |
sind und die in Leipzig-Grünau von vorne beginnen mussten. Es gab den einen | |
Moment, als ein Mann ihn auf Arabisch ansprach und dessen kleiner Sohn | |
daraufhin übersetzte: „Bitte helfen Sie uns.“ – „Da habe ich gemerkt, … | |
ich jetzt das Gespräch weiterführe, wird sich mein Leben verändern.“ So kam | |
es dann auch. „Bald hatte ich so viel zu tun, dass ich meinen Job als | |
Gefängnisseelsorger kündigen musste.“ | |
Die Entscheidung: Andreas Knapp hatte schon vor 2015 einen Wendepunkt in | |
seinem Leben. 1958 in eine gläubige Familie in Baden-Württemberg geboren | |
und geprägt von der kirchlichen Jugendarbeit, entschließt er sich zum | |
Theologiestudium. Nach seinem Abschluss wird er zum Priester geweiht, | |
promoviert und leitet einige Jahre ein Priesterseminar. Diese große | |
Verantwortung als Führungsperson erscheint ihm zu viel, auch die Vorzüge | |
der Position kann er schlecht annehmen. Ihm fehlt der Kontakt zu Menschen | |
außerhalb kirchlicher Kreise. „Ich wollte nicht mehr als Kirchenbeamter | |
leben, sondern lieber mit Menschen zu tun haben, die von der Gesellschaft | |
zu wenig beachtet werden.“ Im Jahr 2000 lässt Knapp sein bisheriges Leben | |
in Freiburg hinter sich und reist mit nur einem Rucksack nach Paris, um | |
einen kleinen Orden zu besuchen: „Die Kleinen Brüder vom Evangelium“. | |
Einfachheit und Entbehrung: Die Philosophie des Ordens basiert auf den | |
Schriften des Priesters Charles de Foucauld und der Vorstellung, dass alle | |
Menschen Geschwister sind. Das gemeinschaftliche Zusammenleben ist daher | |
zentral, aber auch der Einsatz für die Armen und der Verzicht auf | |
Besitztümer. Bevor Knapp in die Bruderschaft eintritt, wird er auf die | |
Probe gestellt. In Paris arbeitet er ein Jahr als Reinigungskraft, in | |
Neapel als Hilfskraft auf einer Baustelle und in Cochabamba in Bolivien | |
einige Jahre als Joghurtverkäufer. „Von Bolivien bin ich direkt nach | |
Leipzig gereist, wo ich dann gemeinsam mit drei anderen Brüdern eine neue | |
Niederlassung gegründet habe.“ In Leipzig suchen sich die Brüder meist | |
einfache Jobs. So arbeitet Knapp zehn Jahre in einer Fabrik am Fließband. | |
Der Umzug: In den ersten Jahren lebt die Bruderschaft noch in einer anderen | |
Wohnung in der unsanierten Plattenbausiedlung. „Damals hieß es, dass mit | |
der Sanierung der letzte Schandfleck beseitigt würde. In diesem Schandfleck | |
haben wir einige Jahre gelebt.“ Viele Kontakte, die dort zu der | |
Nachbarschaft aufgebaut wurden, seien mit dem Umzug in die neue Wohnung | |
abgebrochen. „Neue Kontakte aufzubauen braucht seine Zeit. So ein | |
Plattenbauviertel ist ja ein anonymes Viertel. Und wenn dann Fremde kommen, | |
die auch noch Wessis und Christen sind und in einer Art Männer-WG leben, | |
dann ist das für viele erst mal suspekt.“ | |
Brücken bauen: Regelmäßig empfängt die Bruderschaft Gäste. Die Menschen, | |
die dann ein paar Nächte bei ihnen übernachten, sind nicht zwingend | |
Bekannte oder Freunde der Brüder, sondern auch Kontakte aus der | |
Nachbarschaft. Nach der Philosophie des Ordens ist die Verbundenheit mit | |
Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen wichtig. Die Brüder | |
haben daher auch Kontakte zu Nachbarn, die AfD wählen. „Wir versuchen | |
Brücken zu bauen und verstehen uns als große Familie.“ Es gehe nicht darum, | |
eine falsche Harmonie zu schaffen, aber um die Vorstellung, dass das, was | |
zusammenhält, wichtiger ist als die Differenzen. | |
Gemeinschaft: Jeden Morgen und Abend finden sich die Brüder im Gebetsraum | |
zusammen. Dort lesen sie das Evangelium, beten und singen. „Manchmal feiern | |
wir auch Abendmahl in kleinen Gruppen.“ Dann kommen Nachbar:innen dazu, | |
darunter auch Syrer:innen. Vor Corona waren diese Treffen sehr offen und | |
es nahmen viele Menschen teil, jetzt kämen nur ein bis zwei Personen. Die | |
Brüder treffen sich außerdem regelmäßig, um sich darüber auszutauschen, was | |
sie bewegt. „Wir hören dann, wie es mit der Arbeit geht, was es für | |
Spannungen gibt oder was besonders schön war.“ | |
Echte Kommunisten: „Wir sind echte Kommunisten“, sagt Knapp. Die Brüder | |
arbeiten für ihren gemeinsamen Lebensunterhalt und führen eine Buchhaltung | |
über ihre Ausgaben. Privatbesitz gibt es nicht. „Nur ein Bruder besitzt | |
eine Visakarte, und wenn wir manchmal Fahrkarten online bestellen müssen, | |
dann zahlt er sie damit. Und natürlich kann jeder Bruder das kaufen, was er | |
braucht. Vor größeren Ausgaben halten wir vorher Rücksprache miteinander.“ | |
Kampf statt Resignation: Seit ein paar Jahren hilft Knapp besonders | |
geflüchteten Menschen. Die bürokratischen Abläufe bei Behörden, mit denen | |
es die Geflüchteten zu tun haben, machen Knapp auch wütend. „Es gibt viele | |
Einschränkungen, komplizierte Vorgänge und Steine, die diesen Menschen in | |
den Weg gelegt werden. Da krieg ich manchmal schon Wut. Ich resignier da | |
aber nicht, sondern bin eher ein kämpferischer Typ.“ | |
Ohnmacht: Wut empfindet Knapp auch wegen der sexuellen Gewaltverbrechen in | |
der katholischen Kirche. „Ich fühle mich ohnmächtig, weil ich ja zu dieser | |
Kirche gehöre und erlebe, dass in dieser Kirche verbrecherische Dinge | |
geschehen sind.“ Die vergangenen Jahre seien besonders schlimm gewesen. In | |
der Bruderschaft seien bisher keine Missbrauchsfälle bekannt. | |
Macht: Machtstrukturen seien ein wesentlicher Faktor für die Verbrechen in | |
der Kirche. Es brauche so etwas wie eine Gewaltenteilung. „Die | |
absolutistische Struktur der Kirche passt weder zur heutigen Zeit noch zum | |
Evangelium und widerspricht meiner Meinung nach der Botschaft Jesu.“ Bei | |
der Bruderschaft gebe es hingegen Wahlen, und niemand bleibe ewig in einem | |
bestimmten Amt. Der Leiter der Gemeinschaft könne nur für eine Amtszeit von | |
sechs Jahren gewählt werden. | |
Wahrhaftigkeit: Bezogen auf die sexualisierte Gewalt in der katholischen | |
Kirche sei das Problem auch, dass man sich immer noch versuche zu | |
rechtfertigen. „Angesichts der Brutalität, die die Opfer erfahren haben, | |
sollte es als Erstes eine Entschuldigung geben – und dann Schweigen.“ Durch | |
den großen Glaubwürdigkeitsverlust reichten Worte nicht mehr, es müssten | |
Taten folgen. Knapp befürwortet die Öffnung der katholischen Kirche für | |
homosexuelle Menschen. „Ich halte das für das einzig Richtige, weil | |
Menschen nur dann authentisch und wahrhaftig sein können, wenn sie so sein | |
können, wie sie sind.“ Sonst schaffe man eine Doppelmoral. | |
Poesie: Er liebt Gedichte. „Mich fasziniert an der Lyrik die Offenheit für | |
Bilder, die entstehen können, und der Raum, der eigene Erfahrungen | |
wachrufen lässt.“ Die Poesie ermögliche es, mit anderen Menschen in | |
Verbindung zu treten, so wie sich auch im christlichen Glauben Gott im Wort | |
zeigt und eine Beziehung durch Sprache aufgebaut wird. Knapp schreibt | |
anfangs vor allem zu besonderen Anlässen und Geburtstagen von Freunden | |
Gedichte. Mit Mitte 40 veröffentlicht er dann seinen ersten Gedichtband und | |
stößt auf positive Resonanz. Inzwischen sind von ihm zehn Gedichtbände, | |
zwei Romane und Kurzgeschichten erschienen. Inspiration findet er auch bei | |
den Begegnungen mit den Menschen im Plattenbau. | |
10 Apr 2022 | |
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[1] https://www.charlesdefoucauld.de/index.php/wir-ueber-uns/gemeinschaften-im-… | |
## AUTOREN | |
Sara Rahnenführer | |
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