| # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie bestimmt selbst | |
| > Mit 13 zwangsverheiratet, mit 15 Mutter, mit 17 geflohen – Mica Nikolic | |
| > wollte immer frei sein. Und sich von nichts und niemandem einschränken | |
| > lassen. | |
| Bild: Mutter und Sohn: Mica Nikolic ist alleinerziehend | |
| Die Sozialwissenschaftlerinnen und Psychologen denken viel darüber nach, | |
| warum manche Menschen an den Umständen, die ihnen das Leben schwermachen, | |
| zerbrechen – und andere nicht. Resilienz ist hier das Schlüsselwort, auch | |
| in Mica Nikolics Leben. | |
| Draußen: Das vierstöckige graue Wohnhaus, in dem Mica Nikolic und ihr Sohn | |
| leben, liegt an einer verkehrsreichen Hauptstraße in Leipzig. Der Hof des | |
| Mehrfamilienhauses bildet einen idyllischen Kontrast zu der lauten Straße. | |
| In der Mitte des Hofes steht ein hochgewachsener Baum, an dem eine Schaukel | |
| baumelt. Die noch kahlen Äste werfen Schatten an die Häuserwand. | |
| Drinnen: In der geräumigen Dreiraumwohnung liegt nichts herum. Viele Möbel | |
| wirken wie neu, obwohl sie alt sind. „Weil ich gut damit umgehe“, sagt Mica | |
| Nikolic. „Ich weiß ja, wie es ist, nichts zu haben.“ Im Wohnzimmer knistert | |
| Holz im Kaminofen. Die Wände sind dunkelgrau gestrichen. „Weil ich Angst | |
| hatte, dass die Wände sich vom Rauch verfärben.“ | |
| Kurze Kindheit: So wirklich erinnern kann sich Nikolic nicht an ihre | |
| Kindheit und eigentlich möchte sie das auch nicht: „Ich habe gelernt, viele | |
| meiner Erinnerungen auszuradieren.“ Sie ist in Serbien geboren, dort und | |
| auch in Rumänien aufgewachsen und spricht beide Landessprachen. Im | |
| Jugoslawienkrieg muss ihre Familie die Essensvorräte an die Besatzer | |
| abgeben und später ihren Hof verlassen. Mit neun Jahren flieht Nikolic mit | |
| ihrer Mutter über die österreich-ungarische Grenze nach Wien, wo sie eine | |
| Weile illegal leben. Mit 13 Jahren wird sie nach Berlin zwangsverheiratet. | |
| Auf sich gestellt: Den Kontakt zu ihren Eltern bricht sie nach der | |
| erzwungenen Heirat ab. Die Familie ihres Ehemanns behandelt sie schlecht. | |
| Sie muss ungemeldet putzen und in einer Reinigung arbeiten, lernt kein | |
| Deutsch und wird von der Außenwelt abgeschnitten. Sie ist 15, als sie ihre | |
| Tochter zur Welt bringt. Wer sie heute nach ihrem Alter fragt, bekommt die | |
| Antwort: „29 plus“. Gerade so, als zähle sie ihre Kindheitsjahre nicht zur | |
| Lebenszeit dazu. | |
| Flucht: Mit 17 Jahren flieht Nikolic in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“. Sie | |
| hat eine Adresse, die ihr eine rumänischsprachige Frau gibt, die sie von | |
| einem Job kennt. Mitten in der Nacht läuft sie mit ihrer zweijährigen | |
| Tochter, die sie in eine Decke gewickelt hat, auf die Straße und steigt in | |
| ein Taxi. Sie zeigt dem Fahrer die Adresse und sagt nur „keine Polizei“. Er | |
| hilft ihr und bringt sie kostenlos zum Zufluchtsort. | |
| Von ganz unten: Nikolic kämpft sich hoch. Monatelang versteckt sie sich bei | |
| ihrer Arbeitskollegin und wechselt dann in ein Mutter-Kind-Heim. Dort lernt | |
| sie wieder Menschen kennen, die ihr helfen und mit denen sie teilweise | |
| heute noch in Kontakt ist. „Menschen, die gesehen haben, dass ich | |
| vorankommen will.“ Mit 18 Jahren lernt Nikolic Lesen, Schreiben und | |
| Deutsch. Die Kosten für den Deutschkurs erarbeitet sie sich, indem sie für | |
| ihre Deutschlehrerin putzt. Nikolic will selbst Geld verdienen, vom | |
| Sozialamt welches zu bekommen, war und ist für sie keine Option. „Weil ich | |
| nicht vom Staat abhängig sein wollte, habe ich viele Jahre mit meiner | |
| Tochter in einer WG gelebt, bis sie sieben Jahre alt war.“ Im Vergleich zu | |
| heute sei damals für Geflüchtete vieles schwieriger gewesen, sagt sie. | |
| Trophäen: In ihrer Küche stehen auf einem Wandregal glänzende Pokale. | |
| Darunter eine Auszeichnung für den ersten Platz als Barkeeperin. Es sind | |
| Trophäen aus Nikolics Berufsanfängen in Deutschland. In Magdeburg macht sie | |
| zuerst eine Ausbildung zur Restaurantfachfrau und anschließend noch eine | |
| Ausbildung zur Köchin, dann zur Barista. „Ich war sehr erfolgreich.“ Sie | |
| will viel lernen, sich selbstständig machen. Für Cafés und Bars macht sie | |
| das Marketing. Diese Arbeit führt sie nach Leipzig. „In die Stadt habe ich | |
| mich dann irgendwie verliebt.“ | |
| Kinder: „Ich wollte unbedingt noch ein weiteres Kind haben“, sagt Nikolic. | |
| Sie habe eine große Sehnsucht nach Familie und Geborgenheit. Und sie möchte | |
| „Liebe geben“. Doch wegen einer Entzündung im Unterleib nach der Geburt | |
| ihrer Tochter glaubt sie, keine Kinder mehr bekommen zu können, wie es die | |
| Ärzte ihr gesagt haben. Mit einem nigrischen Mann klappt es dann doch, 15 | |
| Jahre später bekommt sie unerwartet einen Sohn. Die Partnerschaft jedoch | |
| hält nur zwei weitere Jahre. Nikolic ist wieder auf sich gestellt. In der | |
| Elternzeit orientiert sie sich beruflich um, weil die Arbeit in der | |
| Gastronomie mit zwei Kindern und als Alleinversorgerin nicht vereinbar | |
| sind. | |
| Ausbruch: „Ich war schon immer anders“, antwortet Nikolic auf die Frage, | |
| wie sie trotz ihrer schwierigen Familiengeschichte so eine offene Haltung | |
| entwickelt konnte. „Ich habe mich schon immer gefragt, was es außerhalb | |
| meiner kleinen Welt und hinter der Mauer gibt.“ Schon als junges Mädchen | |
| entscheidet Nikolic, dass niemand über ihr Leben bestimmen darf. Heute ist | |
| sie dankbar für die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet ist, durch | |
| die sie wachsen konnte und einen anderen Umgang mit dem Frausein lernte. | |
| „Natürlich habe ich auch Menschen kennengelernt, die nicht so gut waren, | |
| aber die Erfahrung braucht man auch“, sagt Nikolic. „Wie Yin und Yang“, | |
| ruft ihr fünfjähriger Sohn aus seinem Kinderzimmer. | |
| Geben und nehmen: Auch wenn Nikolic in ihrem Leben sehr ausgelastet war | |
| durch kräftezehrende Berufe und die Betreuung ihrer Kinder, war es ihr | |
| immer ein Anliegen, anderen Menschen zu helfen. Sie engagierte sich | |
| ehrenamtlich bei der Caritas und wenn jemand Hilfe brauchte, sei sie mit | |
| ihrer Tochter an Ort und Stelle gewesen. Denn auch sie sollte lernen, wie | |
| wichtig es ist zu geben. „Die ehrenamtliche Arbeit war die schönste Arbeit | |
| für mich.“ Die Freude am Geben brachte sie auch auf die Idee, eine | |
| Weiterbildung zur Betreuungskraft im Pflegeheim zu machen. | |
| Gegenwart: Heute arbeitet sie als Sozialassistentin in einer | |
| Gerontopsychiatrie und als Reinigungskraft in einer Praxis. Wenn niemand | |
| Zeit hat, auf ihren Sohn aufzupassen, nimmt sie ihn mit zu ihrem | |
| Reinigungsjob. Das sei in Ordnung, denn er solle lernen, dass man sich | |
| alles verdienen muss. „Wir wollen hier wohnen, wir wollen schön essen und | |
| dafür muss man auch etwas machen“, sagt Nikolic. | |
| Asylpolitik: Obwohl Nikolic über die Hälfte ihres Lebens in Deutschland | |
| gelebt hat, hat sie keine deutsche Staatsbürgerschaft. Noch immer muss sie | |
| alle drei Jahre ihr Visum verlängern. Gerade kann sie es nicht, da ihr | |
| Reisepass abgelaufen ist und die serbische Botschaft den Pass nicht | |
| erneuert, solange sie kein verlängertes Visum hat. „Das macht mir gerade | |
| viele Sorgen.“ | |
| Diskriminierung: „Egal, wo man ist, man wird damit konfrontiert.“ Auf einem | |
| Spielplatz wurde ihre Tochter einmal von einem Mann als „ekelhaft“ | |
| bezeichnet. Dessen Sohn hatte dem Mädchen in den Arm gebissen, weil er habe | |
| wissen wollen, ob sie nach Schokolade schmecke. Und mit ihrem Sohn erlebte | |
| sie in einem Einkaufszentrum, wie eine Frau das damals einjährige Kind | |
| anschrie und rassistisch beleidigte. Als sie ihren Sohn verteidigte, | |
| beschwerte sich eine Verkäuferin, sie solle nicht so laut streiten. Wird | |
| sie selbst diskriminiert, könne sie damit umgehen, aber bei ihren Kindern | |
| treffe sie das sehr. Sie versucht, ihnen zu erklären, was Ungerechtigkeit | |
| heißt und wie sie damit umgehen können. „Manche Situationen rede ich aber | |
| schön, weil ich die kleine Seele meines Sohnes noch schützen möchte, | |
| solange es geht.“ | |
| Weinen, singen und tanzen zur Musik: Wenn die Sorgen sich allzu sehr häufen | |
| und der Alltag stark an ihr zehrt, dann beginnt sie zu tanzen. „Ich mach | |
| die Musik dann laut, tanze, singe und manchmal vergieße ich ein paar | |
| Tränen.“ | |
| 9 May 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Sara Rahnenführer | |
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