| # taz.de -- Verschleppung von jungen Frauen: „Es gibt sehr wenige Daten“ | |
| > Finden Zwangsverheiratungen in den Sommerferien statt? Nicht unbedingt: | |
| > Das Phänomen ist komplexer, weiß die Berliner Kriseneinrichtung Papatya. | |
| Bild: Ganz normale Urlaubsreise? Oder ein Flug ohne Ticket zurück? | |
| taz: Können Sie den Unterschied zwischen Zwangsverheiratung und | |
| Verschleppung erklären? | |
| Papatya: Zwangsverheiratung und Verschleppung sind verwandte Formen von | |
| familiärer Gewalt und Kontrolle über das Leben der eigenen Kinder bzw. | |
| Töchter. Aber es sind eigenständige Phänomene. Zwangsverheiratet zu werden | |
| bedeutet, gezwungen zu werden, einen Ehepartner oder eine -partnerin zu | |
| heiraten. Unter Verschleppung verstehen wir die Verbringung der Kinder ins | |
| Ausland bzw. ins Herkunftsland der Familie – meist unter Vortäuschung | |
| falscher Tatsachen wie eines Urlaubs. Ziel ist es, die Tochter dort erst | |
| mal gegen ihren Willen zurückzulassen und an der Rückkehr nach Deutschland | |
| zu hindern. Das kann im Zusammenhang mit einer Zwangsverheiratung stehen, | |
| aber das ist nicht der Regelfall. Verschleppungen sind meist anlassbezogen. | |
| taz: Was heißt das? | |
| Papatya: Dass es einen akuten Grund gibt. Das kann eine vorherige | |
| Unterbringung in der Jugendhilfe sein, wo Mädchen sich überreden lassen, | |
| wieder nach Hause zu gehen, und dann wird diejenige verschleppt. Diese | |
| Erfahrung haben wir auch mit ehemaligen Bewohnerinnen unserer anonymen | |
| Kriseneinrichtung gemacht. Häufig ist der Anlass einer Verschleppung ein | |
| heimlicher Freund, der aufgeflogen ist. Wir haben auch schon Fälle gehabt, | |
| wo jemand hier in Deutschland versucht hat, die Eltern wegen der drohenden | |
| Zwangsverheiratung anzuzeigen – und als Antwort wurde die Betroffene außer | |
| Landes gebracht. Im Ausland gibt es die Hilfsmöglichkeiten, die es hier | |
| gibt, in diesem Ausmaß eben nicht. | |
| taz: In den Sommerferien steigt wohl die Zahl der Zwangsverheiratungen. | |
| Mädchen würden in das Heimatland gebracht und während des Urlaubs dort | |
| verheiratet. Dann kommen sie nicht mehr wieder. Stimmt das? | |
| Papatya: Es gibt dazu sehr wenige Daten. Wir haben seit 2013 einen | |
| Beratungsschwerpunkt zum Thema Verschleppung und konnten in dieser Zeit | |
| einen Blick auf viele Fälle werfen. Unsere Zahlen deuten nicht darauf hin, | |
| dass die Zahlen in den Sommerferien deutlich steigen. Verschleppungen | |
| passieren das ganze Jahr über. Der Zeitpunkt, wann Betroffene einen | |
| Hilferuf absetzen können, ist unterschiedlich. Dennoch ist die | |
| Präventionsarbeit vor den Sommerferien sehr wichtig. Und es kommt auch ein | |
| Stück weit daher, dass natürlich die Schulen ein Dreh- und Angelpunkt sind, | |
| zu erkennen, ob Jugendliche oder junge Frauen oder Mädchen verschleppt | |
| werden. | |
| taz: Weil? | |
| Papatya: Weil es dort auffällt, wenn im nächsten Schuljahr eine Jugendliche | |
| nicht mehr da ist. Wir haben vor ein paar Jahren eine Befragung in Berliner | |
| Schulen gemacht – jeweils vor und nach den Sommerferien. Ein Anstieg von | |
| Verschleppungsfällen konnte dadurch nicht festgestellt werden. Das hat aber | |
| auch damit zu tun, dass der Rücklauf sehr gering war. Viele Schulen sind | |
| personell überlastet. | |
| taz: Zwangsehen oder Verschleppungen werden meist mit dem Islam in | |
| Verbindung gebracht. Kann man das so pauschal sagen? | |
| Papatya: In unserer Beratung kommt der Großteil der Betroffenen aus | |
| Herkunftsländern, in denen der Islam die Mehrheitsreligion abbildet. Aber | |
| die Religiosität der Familie sagt wenig über die Bereitschaft aus, die | |
| eigenen Kinder gegen ihren Willen zu verheiraten oder zu verschleppen. Es | |
| geht in diesen Fällen nicht um Religion, sondern darum, wie konservativ und | |
| patriarchal Familien sind. | |
| taz: Wie sieht Ihre Präventionsarbeit aus? | |
| Papatya: In erster Linie ist unsere Aufgabe, Betroffene zu beraten und | |
| ihnen zur Seite zu stehen. Unsere Kriseneinrichtung ist 24 Stunden besetzt, | |
| im Notfall können wir jederzeit eine bedrohte junge Frau aufnehmen. In der | |
| Beratungsarbeit bedeutet Prävention oft längere Prozesse, um die | |
| Betroffenen zu unterstützen. Ein weiterer großer Teil ist die Beratung von | |
| Fachleuten. Und die Schulen sind ein sehr wichtiger Ort für | |
| Präventionsarbeit – oft der einzige Ort, an dem die Jugendlichen nicht von | |
| den Familien kontrolliert werden können. Wir bilden Schulpersonal fort, | |
| setzen uns aber nicht selbst vor eine Klasse. Unsere Präventionsarbeit | |
| besteht außerdem in unseren Infomaterialien, unserer Website oder | |
| Kampagnen, die wir in Kooperation mit den Mädchen in der Kriseneinrichtung | |
| erarbeiten – weil wir sicherstellen wollen, unsere Zielgruppe zu erreichen. | |
| 1 Sep 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Derya Türkmen | |
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