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# taz.de -- Der Hausbesuch: Der Code zum Glück
> Enas Al-Rubaye kam 2010 mit ihrem Mann aus dem Irak nach Deutschland. Die
> Ehe ging schief und er zurück; sie lernte Deutsch und Programmieren.
Bild: Seit Enas Al-Rubayes Mann weg ist, haben ihre Kinder Superkräfte entwick…
Wenn Enas Al-Rubaye durch die Brille schaut, sieht sie Probleme. Sie sieht
Erwachsene, die nicht genug Verantwortung übernehmen und sie sieht
Familien, die von solchen Erwachsenen abhängig sind. Das ergibt
zusammengerechnet für sie folgendes Ergebnis: Sie will zeigen, wie es
besser geht.
Draußen: Der Tübinger Himmel ist trüb und sonnenlos. Die Berge im
Hintergrund und davor die Häuser liegen im leichten Nebel. Das macht die
Plattenbauten, eine Fabrikhalle und Häusle mit moosbewachsenen
Ziegeldächern nicht schöner. Dazwischen schlängelt sich die regennasse
Straße, die zur Wohnung der Al-Rubayes führt.
Drinnen: Auf dem Küchentisch liegt ein Tausend-Teile-Puzzle, das Al-Rubaye
schon zu einem Zehntel fertig hat. Irgendwann soll es eine Wolfsfamilie
zeigen. Wenn sie puzzelt, kann sie entspannen. Manchmal helfen ihr die
Kinder. Manchmal rennen sie auch wild durch die Wohnung. Zwei weitere
Puzzle hängen eingerahmt über den Betten in ihren Zimmern.
Die Kinder: „Ich will die Kinder“, habe ihr Mann gesagt, als feststand,
dass er in den Irak zurückkehren wird. Am Ende ging er doch ohne die
zehnjährige Lisa, die achtjährige Susan und den sieben Jahre alten Faisal
und nahm stattdessen die 4.700 Euro von der gemeinsamen Kreditkarte mit und
sich im Irak eine zweite Frau. Seitdem haben die Kinder Superkräfte
entwickelt. Lisa räumt bei Schachturnieren ihrer Schule ab. Susan
korrigiert ihre Mutter, wenn sie ein deutsches Wort falsch ausspricht. Und
Faisal versucht, ein moderner Junge zu sein. Al-Rubaye bringt ihren Kindern
bei, dass es in Ordnung ist, auch mal zu verlieren, wenn man danach wieder
aufsteht. „Das gehört zum Lernprozess“, sagt sie.
Die Erwachsenen: Auch in Deutschland hätten arabische Männer wenig Respekt
für Frauen wie sie. Zumindest die, denen Enas Al-Rubaye im Alltag so
begegnet. Und wenn sie mal wieder mitbekommt, wie ein Vater seine Tochter
„Prinzessin“ und seinen Sohn „Arschloch“ nennt, fragt sie sich, warum so
wenige Erwachsene eine Therapie machen. Ihre Freundinnen empfehlen ihr:
„Nicht darüber aufregen.“ Überhaupt die Freundinnen: Arbeitet sie einmal
länger als geplant, holen diese ihre Kinder von der Schule ab. Sie sind das
soziale Netz, das Enas Al-Rubaye hilft, Kinder, Küche und sexistischen
Irrsinn zu bewältigen.
Der verrückte Krieg: Al-Rubayes Mutter war in Bagdad Chefin einer
Sportakademie, ihr Vater baute Satelliten für TV-Sender. Al-Rubaye
beschreibt ihn als ihr Vorbild: Er habe viel gelacht und nie gejammert und
sei, wenn er doch mal traurig war, still geblieben. Sie erinnert sich, wie
er jeden Tag um sechs Uhr morgens das Haus verließ und um sechs Uhr abends
wiederkam. „Er hatte kein Problem damit, auch mal in kaputten Schuhen auf
die Straße zu gehen“, sagt Al-Rubaye. Im Jahr 2006, da war sie 19 Jahre
alt, wird ihr Vater ermordet, „wegen des verrückten Krieges zwischen
Schiiten und Sunniten“. Ihre Mutter und Geschwister wohnen jetzt in den
Vereinigten Staaten, Schweden und den Niederlanden. Wenn es ein gutes Jahr
ist, schaffen sie es, sich zu treffen.
Ankommen: Al-Rubaye heiratete im Irak; es war eine arrangierte Ehe. Im Jahr
2010 kam sie mit ihrem Mann nach Nürnberg. Sie war schwanger und fühlte
sich isoliert. Wenn sie zum Arzt ging, konnte sie sich kaum verständigen.
Irgendwann fand sie einen Kindergarten, der auch Deutschkurse anbot. Doch
die Leiterin habe ihr gesagt: „Wir können keine weitere Mama aufnehmen.“
Nach dem Umzug nach Tübingen und der Geburt des dritten Kindes setzte Enas
Al-Rubaye sich kurzerhand in die Stadtbücherei und lernte die neue Sprache
allein.
Deutsch für Anfängerinnen: Ende 2015, da war ihr Mann nach einigen Streits
bereits ausgezogen, ging sie dann doch noch zum Sprachkurs. Denn die
deutsche Grammatik allein zu verstehen, sei unmöglich. Ihre Deutschlehrerin
stand damals kurz vor der Rente und war geduldig, erklärte viel.
Mittlerweile versteht Al-Rubaye sogar die Texte von Franz Kafka, die sie in
der Berufsschule lesen muss, wo sie eine Ausbildung zur Fachinformatikerin
macht. Eine von Kafkas Allegorien mag sie besonders: „Ein Mann wacht auf,
geht zum Zug und sieht, dass die Bahnhofsuhr eine sehr späte Zeit zeigt. Er
schaut auf die Uhr und bemerkt, dass es auch in seinem Leben spät ist.“
Programmieren: Die Programmiersprache Java sei einfacher als Deutsch, meint
Enas Al-Rubaye. Sie verdient mit Webdesign ihr Geld, codet User Interfaces
für eine gut vernetzte schwäbische Softwarefirma. Als junge Frau hat sie in
Bagdad Informatik studiert, mit der deutschen Ausbildung ist sie fast
fertig und träumt von einem unbefristeten Arbeitsvertrag. Sie sagt, sie
liebe es einfach, in Programmiersprache zu schreiben. In der Firma hat man
Verständnis, wenn sie wegen der Kinder einmal zu Hause bleiben muss.
Die Frauenrechte: Das letzte Jahr mit ihrem Mann, sagt Enas Al-Rubaye, sei
so schlimm gewesen, dass sie ihm nicht einmal mehr einen guten Morgen
wünschen konnte. Scheidungen werden im Irak meist von Männern initiiert,
laut Al-Rubaye sind das rund 4.000 von insgesamt 6.000 jedes Jahr. Eine
Frau könne sich nur rechtskräftig scheiden lassen, wenn schon Schlimmes
passiert sei: „Sie muss im Krankenhaus landen mit gebrochenen Händen und
Füßen, dann akzeptiert es der Richter.“ Mit so einer Rechtsauffassung ist
sie keinesfalls einverstanden.
Das Bücherregal: Fast eine ganze Wand füllt das Bücherregal in ihrem Zimmer
aus. Es wird ständig mit neuen Schmökern befüllt. Alles auf Arabisch: Ilias
und Odyssee, „Der Staat“ von Platon, daneben Oprah Winfrey, Steve Jobs und
Dan Brown. Auf dem obersten Regalbrett nehmen die Bände der Reihe
„Geschichte der Zivilisation“ einen Platz ein wie bei deutschen
Mittelstandsfamilien früher der Brockhaus. Al-Rubaye liest jeden Tag vor
dem Schlafengehen eine halbe Stunde. Das Glanzstück ihrer Sammlung ist ein
Buch der arabischen Feministin Nawal El Saadawi. Darin ist erklärt, wie der
Hass gegen Frauen im Islam seinen Anfang nahm.
Was im Koran steht: Auch mit dem Koran beschäftigt sich Al-Rubaye. Und zwar
kritisch. Was in den Suren steht und wie es Machthaber wie der irakische
Premierminister Mustafa Al-Kadhimi in weltliche Gesetze uminterpretiert
haben, hat Al-Rubaye schon vielfach nachrecherchiert. „Sie überschreiben
den Koran“, sagt sie. Sie glaube nicht, dass Mohammed predigte, dass Frauen
sich nicht scheiden lassen dürfen und Kinder ab dem zehnten Lebensjahr
geschlagen werden sollten, wenn sie nicht beten. Wer könne das heute
überhaupt so genau sagen, über 1.500 Jahre später? Sie habe aus dem Koran
vor allem gelernt, wie wichtig es ist, geduldig zu sein.
Aktivistin sein: Seit Juli 2021 gibt Al-Rubaye den irakischen Sendern
„After Investigation“, „Aus Bagdad“ und „Die vierte Seite“ Live-Int…
Darin setzt sie sich für das Recht der irakischen Frauen auf die eigenen
Kinder ein. Denn im Parlament wurde ein Gesetzesentwurf eingebracht, der
vorsieht, geschiedenen Frauen und Witwen die Kinder wegzunehmen, sobald sie
sieben Jahre alt sind. Al-Rubaye und andere haben erreicht, dass zumindest
Witwen aus dem Entwurf gestrichen werden. „Wer ist diese Frau?“, soll ein
Richter während eines ihrer Interviews gefragt haben. Für die Gegenseite
sei es schwer, ihr zu widersprechen, weil sie mit dem Koran argumentiert
und offizielle Stellen zitiert. Sie sei stolz darauf, im TV über das Thema
sprechen zu können. Die Frauen sollen wissen, dass jemand existiert, der
sich für sie einsetzt.
Die Windmühlen: Auf ihrer Facebook-Seite kommentiert sie regelmäßig, was im
Irak passiert. Über 5.000 Follower hat sie. Täglich werden es mehr. Im Irak
ist Facebook ein beliebtes Informationsmedium, Instagram auch, aber das sei
ihr zu kompliziert: „Das kostet zu viel Zeit, wenn du das kontrollieren
willst.“ Sie bekomme häufig Hassnachrichten und Drohungen. Erst kürzlich
landete der Vorwurf in ihrem Postfach, sie arbeite mit dem israelischen
Staat zusammen. Al-Rubaye ignoriert das. [1][Auf Youtube hat sie auch einen
Kanal]. Dort lädt sie Videos hoch, in denen sie erklärt, wie die
Programmiersprache Java funktioniert.
28 Mar 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/c/EnasAlrubayeLSF/featured
## AUTOREN
Sophie Laaß
## TAGS
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