# taz.de -- Der Hausbesuch: Der Vater, ein Brauner | |
> Seit Jahren setzt sich Bernhard Gelderblom für die Aufarbeitung der | |
> NS-Zeit in seiner Wahlheimat Hameln ein. Damit macht er sich nicht nur | |
> Freunde. | |
Bild: Für viele ist er „der mit den Juden“: Bernhard Gelderblom in seinem … | |
Die Nazizeit zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Biografien der | |
Nachgeborenen. Bernhard Gelderblom ist einer, der das angegangen ist. | |
Draußen: Hameln, diese Kleinstadt im Südwesten von Niedersachsen, ist | |
bekannt vor allem [1][wegen des Rattenfängers]. Seinetwegen besuchen | |
Touristen das beschauliche Städtchen an der Weser. | |
Drinnen: Seit 1980 lebt Bernhard Gelderblom mit seiner Frau Gisela in einer | |
Doppelhaushälfte im ruhigen Klütviertel. Drei Kinder haben sie hier | |
großgezogen, inzwischen gibt es sieben Enkelkinder. Eine Holztreppe führt | |
in sein Arbeitszimmer. Da verbringt er die meiste Zeit des Tages. | |
Früher: Gelderblom ist ein Kriegskind, geboren 1943. Zwei Jahre alt ist er, | |
auf den Schultern einen Rucksack samt Pinkeltopf, als die Mutter gemeinsam | |
mit einer Freundin und den beiden älteren Geschwistern vom damaligen | |
Westpreußen in den Westen flieht. „Das muss furchtbar gewesen sein, jede | |
Nacht woanders, mal auf einem Lkw der Wehrmacht, mal in einer Besenkammer.“ | |
Erinnerungen aus dieser Zeit hat er nicht, doch der vier Jahre ältere | |
Bruder erzählt von einer Frau, die schreit: „Wo ist mein Kind?“, als der | |
Zug sich bereits in Bewegung gesetzt hat. „Das beschäftigt mich noch heute, | |
diese Angst, verlassen zu werden.“ | |
Kindheit: Nach Stationen bei Magdeburg und in Minden lässt die Familie von | |
Gelderblom sich in Herford nieder. Die Mutter muss gut haushalten, aber sie | |
kriegt ihre Kinder satt. | |
Stillgestanden: Im Krieg ist der Vater Besatzungsbeamter und Offizier, | |
danach Baurat. „Gegessen wird erst, wenn der Oberste Offizier die Gabel | |
aufgenommen hat, hieß es am Tisch.“ Der Oberste war er. „Es hatte etwas | |
Freudloses.“ Der Vater kümmert sich wenig um die nun vier Kinder. Die | |
Mutter kann ihm wenig entgegensetzen. Vorwürfe macht er dem Vater nicht: | |
„Der Krieg hat so viel zerstört. Wer aus dem Krieg zurückkam, der war ein | |
zerstörter Mensch.“ | |
Das große Schweigen: „Zugespitzt gesagt, habe ich nach dem Krieg eine gute | |
nationalsozialistische Erziehung genossen“, sagt er. „Mein Vater hat nicht | |
dazugelernt.“ In der zweiten Reihe des Bücherregals findet er die | |
einschlägigen Bücher. „‚Mein Kampf‘ und den anderen Schund.“ Seine St… | |
ist voller Ekel. Am Gymnasium wird nicht über den Holocaust gesprochen. | |
„Den Vater konnte ich nicht fragen, das Verhältnis hatten wir nicht.“ Er | |
erfährt, dass in der benachbarten Realschule [2][„Nacht und Nebel“] gezeigt | |
wird, ein französischer Dokumentarfilm über die deutschen | |
Konzentrationslager. „Irgendwie kam ich da rein. Ich war völlig verstört, | |
und von diesem Moment an hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.“ | |
Unizeiten: Er studiert Theologie in Bonn. „Das Fach vereint so vieles, | |
Geschichte, Philosophie, Philologie, Seelsorge und Gesprächsführung.“ Doch | |
als Pfarrer sieht er sich nicht. Es ist die Zeit der 68er, auch er ist | |
politisch, demonstriert gegen den Vietnamkrieg, die Nachrüstung. „Ich war | |
viel dabei, aber nicht in Gruppen organisiert.“ | |
Nochmal auf Anfang: Lehramt statt Pfarramt. Im Schnelldurchlauf studiert er | |
in Göttingen Geschichte und Politik. Er ist Vater, muss Geld verdienen. | |
Nach dem Referendariat bekommt er die Stelle am Albert-Einstein-Gymnasium | |
in Hameln und bleibt bis zur Pension. Er ist überrascht, wie gut es klappt. | |
„Ich war immer schüchtern, das zieht sich bis heute durch. Aber | |
Unterrichten lag mir sofort. Dass ich selbst ein sehr schlechter Schüler | |
war, kam mir zugute.“ | |
Engagement: Anlässlich des 40. Jahrestags der Reichspogromnacht erhält er | |
das Angebot, eine Broschüre über den Jüdischen Friedhof in Hameln zu | |
machen. Er nutzt das Projekt auch im Unterricht. „So konnte ich zeigen, | |
dass sich das nicht irgendwo abgespielt hat, in Berlin oder in München, | |
sondern auch hier in Hameln.“ | |
Die Lebensaufgabe: Er setzt die Brille ab und reibt sich die Augen. „Wissen | |
Sie, was Judenhäuser waren? Da wurden die Juden aus ihren Häusern | |
verschleppt und zu Hunderten zusammengepfercht. In Hameln gab es zwei davon | |
bereits 1939, in Hannover erst 1942.“ Ein Beispiel dafür, wie stark der | |
Nationalsozialismus damals in Hameln verankert war. „Bis dato hatte die | |
Stadt keine eigenen Anstrengungen angestellt, diese Zeit aufzuarbeiten.“ | |
Immer wieder steht er auf, zieht Bücher aus dem Schrank, selbst | |
geschriebene, jahrzehntelang hat er dazu recherchiert in Archiven, Hunderte | |
Gespräche mit Zeitzeugen geführt, mit Tätern, mit Opfern, Angehörigen. Er | |
erzählt von Schicksalen, zeigt Bilder. | |
Die Absicht: Nicht wenige Menschen lehnen seine Arbeit ab. Da könne man | |
doch jetzt endlich mal einen Schlussstrich ziehen, sagen sie. Diese Zeit | |
sei doch lange vorbei. „Meine Arbeit ist für mich der Versuch, etwas heile | |
zu machen. Hitler und der Krieg haben die Seelen zerstört“, sagt er. | |
Brücken bauen: Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Unterlagen, immer | |
wieder klingelt das Telefon, der Kalender ist voll. Er beantwortet | |
Hinterbliebenen Fragen, lädt sie ein, versucht, Brücken zu bauen. „Manchmal | |
schaffe ich es, dass Menschen, die nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden | |
setzen wollten, doch noch einmal kommen, ihr Schweigen brechen.“ Er | |
erstellt ein digitales Gedenkbuch aller NS-Opfer der Stadt Hameln und des | |
Landkreises. Etwa 2.000 Personen werden darin mit einer Kurzbiografie | |
dargestellt. Besonders das Thema Zwangsarbeit treibt ihn um. „Für die | |
10.000 Menschen, darunter viele Kinder, interessiert sich kaum jemand.“ | |
Erfolge: Er erreicht, dass in Hameln und in Orten im Landkreis | |
Stolpersteine gelegt werden. Er schafft es, dass eine Straße nach einem | |
jüdischen Mädchen, das in Auschwitz ermordet wurde, benannt wird. „Trotz | |
all des Grauens, das mich durch meine Forschung umgibt, erlebe ich bei | |
meiner Arbeit auch viele Momente des Glücks. Ich erfahre viel Dankbarkeit.“ | |
Resilienz: Fragt man ihn, ob er je daran dachte, hinzuschmeißen, kommt die | |
Antwort sofort: „Das war beim Bückeberg-Projekt.“ Das auf dem Bückeberg b… | |
Hameln von 1933 bis 1937 jährlich veranstaltete „Reichserntedankfest“ | |
gehörte zu den größten Massenveranstaltungen der NS-Zeit. Bis zu eine | |
Million Menschen kamen hier zusammen, um Adolf Hitler zu huldigen. Zehn | |
Jahre kämpft er allein dafür, dass der Ort unter Denkmalschutz gestellt | |
wird. „Ich habe wirklich an den Behörden gezweifelt.“ | |
Ablehnung: Für viele ist er „der mit den Juden“. Er wird für seine | |
Anstrengungen angefeindet, beleidigt, beschimpft. Meist perlt die Ablehnung | |
an ihm ab. Doch was ihn tief verletzt: dass kaum jemand aus der | |
bürgerlichen Mitte ihn verteidigt habe. 2021 eröffnet nach jahrelangen | |
Bemühungen der Dokumentations- und Lernort Bückeberg. | |
Ausgleich: Er ist passionierter Radfahrer, liebt Reisen. Kraft gibt ihm | |
auch seine Frau, mit der er seit 54 Jahren verheiratet ist. „Sie hat so | |
eine selbstverständliche Fröhlichkeit“, sagt er. Mit Begeisterung erzählt | |
er von ihr, seinen Kindern und Enkeln. „Vor allem von meinen Söhnen habe | |
ich mir oft den Vorwurf anhören müssen, dass ich immer mehr für andere da | |
gewesen sei. Das macht mir ein schlechtes Gewissen, weil es stimmt.“ | |
Geld: Er macht seine Arbeit ehrenamtlich; Lehrer erhalten eine gute | |
Pension, sagt er. „Die Bücher verkaufen sich schlecht. Bücher über Hameln | |
interessieren schon in Hannover keinen mehr. Trotzdem ist die Aufarbeitung | |
wichtig.“ Ein bisschen tue es schon weh. „All die Arbeit und immer wieder | |
das Gefühl: Das interessiert keinen.“ Um jedes Buch, jedes Projekt wieder | |
ein Riesenkampf, Klinken putzen bei Sponsoren. „Das Betteln hat mich | |
manchmal mehr Nerven gekostet als die Recherche.“ Aber er hört nicht auf. | |
In seinem nächsten Buch will er die Hamelner Nationalsozialisten in seinen | |
Fokus rücken. „Wir müssen auch über die Täter sprechen.“ | |
Und abseits der Forschung? „Ich will endlich wieder reisen.“ Nach Kirgistan | |
soll es 2022 gehen, mit seiner Frau hat er zudem eine Radtour durch Polen | |
geplant. Die afrikanische Wüste, durch die er vor Corona viel mit dem Zelt | |
gewandert ist, wird wohl ein Traum bleiben. „Da zolle ich dem Alter | |
Tribut.“ | |
27 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hameln.de/de | |
[2] /Die-Bilder-der-Toten/!5250792/ | |
## AUTOREN | |
Lea Schulze | |
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