# taz.de -- Der Hausbesuch: Respekt für die schlichten Dinge | |
> Sie backen ihr eigenes Brot, halten Bienenstöcke, schätzen altes | |
> Handwerk: Ellen Gernun und Martin Lohmann lieben sich – und alles, was | |
> uneitel ist. | |
Bild: Seit 26 Jahren ein Herz und eine Seele: Ellen Gernun und Martin Lohmann | |
Vielleicht kann man diese beiden als Zentrum einer großen | |
„Bindegliedfamilie“ bezeichnen. Das würde nicht nur zum Alltag in ihrer | |
Patchworkfamilie passen. Sie vermitteln auch zwischen Hand- und Kopfarbeit. | |
Und zwischen den Generationen: Ellen Gernun und Martin Lohmann verstehen | |
das Drängen der Jüngeren auf mehr Nachhaltigkeit – damit es wirklich eine | |
Zukunft gibt, und zwar für alle. | |
Draußen: Fast alle Häuser im Stadtbezirk Münster-Nord sind von Gärten | |
umgeben. So wie das Domizil von Ellen Gernun und Martin Lohmann. „Hier | |
waren früher nur Tannen“, sagt er. Ihr zweistöckiges Haus, sechs Jahre nach | |
dem Zweiten Weltkrieg erbaut, haben sie 17 Jahre lang immer weiter | |
ausgebaut und verschönert. Ein prächtiger Heckenbogen schmückt den Eingang, | |
auf der großen Veranda stehen viele Blumentöpfe. Und sie haben | |
[1][Bienenstöcke angeschafft]. | |
Drinnen: Zwei Liegesessel aus Leder sind direkt vor der verglasten Veranda | |
mit Blick auf den Garten platziert. In einer Sitzecke, ebenfalls aus Leder, | |
machen die beiden es sich gern gemütlich. Dort trinken sie gerade ihren | |
Kaffee aus altem Porzellan, dazu naschen sie Nüsse und getrocknete Äpfel | |
aus dem eigenen Garten. | |
Die Eiersammlung: Sie besitzen auch eine Schmucktheke. Auf deren | |
Glasabdeckung und in den Holzschubladen stellen sie ihre Schätze aus, weder | |
Edelsteine, noch Perlen, sondern: Eier. Gänseeier, Enteneier, Straußen- und | |
Wachteleier, es müssen an die 100 sein. Ein ganz besonderes Exemplar wird | |
von einer Glaskuppel behütet: das Ei eines schwarzen Schwans. Vor 26 Jahren | |
schenkte Martin Lohmann es seiner Freundin Ellen Gernun, als Zeichen seiner | |
Liebe. Seither sind sie zusammen. | |
Die Liebe: „Wird es etwas mit uns beiden werden?“, überlegte Martin Lohmann | |
damals. „In dem Ei steckt Potenzial“, sagt Ellen Gernun heute. Mittlerweile | |
ist sie 63 Jahre alt, er 67. Schon beim ersten gemeinsamen Abendessen sei | |
ihnen klar gewesen, dass sie sich verlieben, erzählen die beiden. Er | |
brachte zwei Kinder aus seiner ersten Ehe mit in die Verbindung, auch sie | |
hatte zwei Kinder mit ihrem Exmann bekommen. Eine Patchwork-Großfamilie ist | |
daraus entstanden, in der alle fest zusammenhalten, Großeltern, Eltern, | |
Kinder sowie Enkel und Enkelinnen. | |
Die Laufbahn: Lohmann studierte Germanistik und Theologie, unterrichtete | |
Schulkinder in Deutsch und Religion, ab und zu auch in Mathematik. Dann | |
entdeckte er seine Leidenschaft für den Backofen, machte eine Ausbildung | |
als Bäcker, um eines Tages den Betrieb seiner Eltern zu übernehmen. 1996 | |
kehrte er doch wieder in die Wissensvermittlung zurück, wurde Lehrer für | |
Technologie im Adolph-Kolping-Berufskolleg in Münster. Dort unterrichtete | |
Ellen Gernun Kunst und Kunstgeschichte, so trafen sie sich. | |
Das Bienenvolk: Nun sind sie beide im Ruhestand, aber der ist gar nicht | |
sonderlich ruhig. Denn Ellen Gernun ist Imkerin geworden, und das macht | |
durchaus Arbeit. „Nachdem die Kinder das Haus verlassen haben, kamen die | |
Bienen“, sagt sie, zwölf Stöcke insgesamt. Ein Hund lässt sich dressieren, | |
Bienen nicht. „Bienen spiegeln dich und du wirst durch Bienen weiser. Bis | |
es jedoch so weit ist, musst du dir viel Fachwissen zur Pflege und Haltung | |
aneignen“, sagt Gernun. | |
Der Keller: Und es ist nicht nur Honig, den sie selbst herstellen. Reihen | |
von Gläsern mit Quittengelee, Brombeermarmelade und fermentiertem Gemüse | |
aus dem eigenem Garten füllen die Vorratsregale im Keller. Wenn sie Urlaub | |
machen, nehmen sie immer leere Gläser mit, falls sie reife Feigen oder | |
andere Früchte finden, für weitere Marmeladen. | |
In einem Raum mahlen sie Getreide, um daraus [2][Sauerteigbrot zu backen], | |
in einem anderen haben sie alte Gegenstände sortiert, um sie auf dem | |
Flohmarkt zu verkaufen: Werkzeuge, Bücher, Kleidung, Schallplattenspieler – | |
und ein Sack voll Geld. Lohmann lacht und holt Scheine raus. Es ist | |
Inflationsgeld mit Banknoten bis zu 50 Millionen Mark. Von seinen Eltern | |
geerbt. „Man brauchte damals etwa vier Millionen, um ein Brot zu kaufen“, | |
sagt er. | |
Veränderung: „Wir versuchen, grün zu leben. Auch durch Anregungen unserer | |
Kinder“, sagt Gernun. Der älteste Sohn ist 37 Jahre alt, der jüngste 28. | |
Allein anhand dieser zehn Jahre Unterschied lasse sich schon eine | |
Veränderung im Umgang mit Nachhaltigkeit und der Haltung zum Klimawandel | |
beobachten: „Je jünger die Kinder sind, desto aktiver sind sie in diesen | |
Themen involviert“, meint die Mittsechzigerin. | |
Ihr Mann bestätigt das: „Von der Ernährung bis zum Verkehr haben wir unsere | |
Haltung geändert. Die Kinder haben großen Einfluss auf uns. Um 80 Prozent | |
haben wir das Autofahren reduziert. Jetzt fahren wir mit dem Fahrrad in die | |
Stadt.“ Für längere Strecken nehmen sie das E-Bike. „Nachhaltig leben muss | |
nicht teurer sein“, sagt Lohmann. Sie kauften nun bewusster und viel | |
weniger ein. Lange hätten sie auch versucht, einen plastikfreien Haushalt | |
zu führen. Aber ganz ohne gehe es leider nicht. | |
Helfen: Martin Lohmann engagiert sich ehrenamtlich im Senior Experten | |
Service, einem Projekt der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für | |
internationale Zusammenarbeit. Dabei geht es um die Unterstützung von | |
Jugendlichen, die Probleme bei ihrer Ausbildung haben. Er werbe Handwerker | |
und Handwerkerinnen im Ruhestand, seien es Tischlerinnen, Köche oder | |
Bäcker, die die jungen Menschen in vielen Bereichen begleiten könnten, sagt | |
er. Die Älteren helfen den Jungen bei der Wohnungssuche oder gehen mit | |
ihnen einfach mal Kaffee trinken. | |
Enttäuschung: Schwieriger sehe es bei älteren Menschen aus, die studiert | |
hätten. Fast keine Akademiker oder Akademikerinnen oder Leute aus hohen | |
Positionen in der Wirtschaft seien bereit, ihr Wissen und ihre Erfahrung, | |
aber auch ihre Zeit mit jungen Menschen ehrenamtlich zu teilen. Sie seien | |
einfach „für andere nicht da“, bedauert Martin Lohmann. | |
Anerkennung: Sowohl Lohmann als auch seine Frau kämpfen seit über 30 Jahren | |
dafür, [3][dass Leute, die handwerkliche Berufe ausüben, mehr | |
gesellschaftliche Anerkennung bekommen]. Beide sind sich einig: „Die | |
Politik hat dagegen gearbeitet. Sie hat vor allem die akademische Bildung | |
hochgehalten.“ | |
Ellen Gernun findet deutliche Worte: „In der Schule wurden die Kinder in | |
Richtung Abitur geschoben, nach dem Motto: Alle müssen Abitur machen. Und | |
alle sollten ein gutes Abitur machen“, sagt sie und fügt hinzu: „Ob die | |
jungen Menschen dazu aber tatsächlich in der Lage sind? Nach deren | |
Lebenswirklichkeit und tatsächlichen Interessen fragt oft kein Mensch.“ | |
Strukturen brechen: „Jetzt sollen aber plötzlich doch welche ein Handwerk | |
lernen, weil die Politik und die Gesellschaft das gerade so brauchen“, | |
ärgert sich Martin Lohmann. Seine Partnerin ergänzt: „Es wird leider noch | |
lange Jahren dauern, ein Gleichgewicht ins Bewusstsein der Gesellschaft zu | |
bringen.“ Zuerst müssten Stereotype und alte Strukturen abgeschafft werden, | |
die dazu führten, dass man immer wieder höre: „Man wird Handwerker, weil | |
man dümmer oder ärmer ist, als die anderen.“ | |
Die Idee: Um das, was sie „Zwangsakademisierung“ nennen, zu beheben, haben | |
die beiden einen konkreten Vorschlag: Sie finden, dass Jugendliche vor dem | |
Studium einen Beruf erlernen sollten. So würde verhindert, dass Tausende | |
Studierende ihr Studium orientierungslos abbrächen: „Eine Ausbildung vor | |
dem Studium ist immer sinnvoll und dafür sollte die Politik werben“, sagt | |
Ellen Gernun. | |
30 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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