| # taz.de -- Der Hausbesuch: Das Leben ist crazy | |
| > Sie wuchs zwischen Picassos auf, interviewte die Pariser High Society. | |
| > Heute macht Marion Broodthuis Gravier Schmuck aus Berliner | |
| > Graffitischichten. | |
| Bild: Mit Kunst unterwegs: Marion Broodthuis Gravier und ihr Dienstfahrzeug | |
| Manchmal liegt das Glück auf der Straße. Und manchmal klebte es vorher an | |
| einer Wand. Marion Broodthuis Gravier verwandelt Graffitireste in Schmuck | |
| und Kunst, vor allem solche aus der Berliner Mauer. „Streetart to go“, sagt | |
| die junge Frau etwas außer Atem und schiebt ihr altes rotes Lastenfahrrad | |
| vor ihren Laden in Berlin-Neukölln. Sie kommt vom Wochenmarkt, wo sie ihre | |
| Kreationen verkauft. | |
| Draußen: Am Hermannplatz herrscht Feierabendverkehr. Leute stehen vor | |
| Dönerbuden, andere eilen mit Einkaufstüten in die U-Bahn. Gelb angestrichen | |
| ist das Atelier, das sich Broodthuis Gravier mit einem Keramik-Kollektiv | |
| und einer Modedesignerin teilt. Im Schaufenster liegen bunte Ohr- und | |
| Fingerringe, Anhänger, Broschen und Bauchtaschen zwischen leeren | |
| Spraydosen. An der Tür stehen keine Öffnungszeiten; sie sind da, wenn es | |
| passt. | |
| Drinnen: Den Keller hat sich Marion Broodthuis Gravier als Atelier und | |
| Rückzugsort eingerichtet. Es gibt nur ein kleines Fenster, durch das fast | |
| kein Licht kommt. Auf dem Betonboden stehen ein Ledersofa und Kisten voll | |
| mit „Mauerresten“, in den Regalen Matrjoschkas und Keramikstücke, etwa | |
| Tassen, die Brüste haben. An den Wänden: Plakate mit Streetart, „The Lust | |
| Riders“ steht auf einem Poster, es ist vom Film „Indiana Jones“ inspirier… | |
| Eine steile Leiter führt zum oberen Bereich, wo die Siebdruckmaschine ihrer | |
| Kollegin regelmäßige Töne von sich gibt und Wärme abstrahlt, als würde | |
| jemand Kleider bügeln. | |
| Elternhaus: „Vorsicht mit dem Picasso, bitte!“, „Pass auf mit dem Basquia… | |
| okay?“ hat Marion Broodthuis Gravier als Kind fast täglich gehört. Wenn sie | |
| bei ihren Eltern herumspielte, lernte sie ganz nebenbei, dass ein Kunstwerk | |
| etwas sehr Wertvolles ist. Etwas, wovor man Respekt haben muss. Ihr Vater | |
| fing mit dem Kunstverkauf auf Flohmärkten an, wurde dann Galerist und | |
| zuletzt einer der wichtigsten Pariser Händler. Gemälde der renommiertesten | |
| Künstler*innen der Welt lagerten mitunter bei der Familie zu Hause. | |
| Geboren wurde Broodthuis Gravier vor 35 Jahren in Lille. „Doch im Kopf | |
| bin ich noch 16“, sagt sie. | |
| Freiheitsdrang: Als sie 16 wurde, hatte sie es nicht immer leicht. | |
| „Komplett frei“ wollte sie sein, rebellierte und lehnte jede finanzielle | |
| Unterstützung ab, vom Vater und auch von ihrer Mutter, die bei einem | |
| Immobilienfonds arbeitete. „Ich wollte andere Länder bereisen, Menschen | |
| kennenlernen und nicht mit viel Geld zu tun haben“, sagt Marion Broodthuis | |
| Gravier. Aber zuerst kam es anders. | |
| Promi-Lifestyle: Schon in der Schule fing sie an, einen Blog zu schreiben, | |
| sie liebte es, lustige und freche Fragen zu stellen. Der Blog wurde | |
| bekannter, Broodthuis Gravier bekam Anfragen, und „zufällig und ohne | |
| Ausbildung“ wurde sie zur Fernseh- und Radioreporterin, interviewte Stars | |
| und Persönlichkeiten der Pariser High Society, war mit [1][ihrem | |
| Youtube-Format „Les Folies de Marion“] auf mehreren Kontinenten unterwegs. | |
| „Ich hatte meinen eigenen Stil, war jung, und mir machte es Spaß, vor der | |
| Kamera mit Menschen zu reden, Quatsch zu machen“, sagt Broodthuis Gravier. | |
| Nach zehn Jahren aber hatte sie die Nase voll. Sie fand alles | |
| „oberflächlich“ und machte einen radikalen Schnitt. Sie ließ | |
| Ausstellungseröffnungen, Partys, Modeshows, exotisches Essen und luxuriöse | |
| Autos hinter sich, um ihren Träumen nachzugehen. | |
| Was sie will: „Kunst soll kein Eliteprivileg sein, sondern für alle | |
| zugänglich.“ Marion Broodthuis Gravier hatte viele Freund*innen im | |
| Streetart- und Graffitimilieu und wollte deren Talente der ganzen Welt | |
| zeigen. Wie genau, kristallisierte sich für sie erst heraus, als sie | |
| schließlich nach Berlin kam. „Das war Schicksal. Ohne diese Stadt hätte ich | |
| meiner Leidenschaft nie eine Form geben können“, sagt sie. | |
| Paris/Berlin: In Paris sei nicht möglich, was sie in Berlin realisieren | |
| konnte: „Dort sind die meisten auf Aussehen, sozialen Aufstieg und Geld | |
| fixiert“, sagt Marion Broodthuis Gravier. „Ich habe ganz gut verdient. Wenn | |
| ich gesagt hätte, dass ich aufhöre, um mit einem Rad Streetart zu | |
| präsentieren und Schmuck zu verkaufen, hätten sie mich für verrückt | |
| erklärt.“ In Berlin sei es genau andersrum. „Wow, wie cool!“, höre sie | |
| ständig, auch von völlig fremden Menschen. In Berlin wohnt sie in einer WG, | |
| engagiert sich in Künstlerkollektiven. Heute betrachtet sie die Stadt als | |
| „Heimat“. | |
| Erleuchtung: Nach Berlin kam sie der Liebe wegen. „Das ist immer so, oder?“ | |
| Als Broodthuis Gravier vor drei Jahren in Paris ihren Freund kennenlernte, | |
| war der gerade dabei, nach Deutschland zu ziehen. Sie folgte ihm. Die | |
| Beziehung ging in die Brüche. Aber es war ihr Freund, der sie darauf | |
| aufmerksam machte, dass auf dem Boden vor der Berliner Mauer lauter | |
| zusammengeklebte Graffitischichten liegen. „Ich hatte eine kleine | |
| Erleuchtung, als ich das sah.“ Sie fing an, die Stücke zu sammeln. Sie sei | |
| nie auf den Gedanken gekommen, sich direkt Stücke aus der Mauer zu klauben | |
| – es lagen ja genug Graffitischichten davor. „Dieses Material ist auch | |
| nicht gerade umweltfreundlich. Ich hatte das Gefühl, etwas Gutes zu tun, | |
| wenn ich es wiederverwende.“ | |
| Crazy: Zuerst bastelte Broodthuis Gravier aus den Resten ein Paar Ohrringe | |
| für sich selbst. Von Handwerk hatte sie „keine Ahnung – ich war auch nicht | |
| die Begabteste“. Aber dann „wurde es einfach crazy“. Die Leute hielten sie | |
| auf der Straße an und fragten, woher sie ihren Schmuck habe. „Also habe ich | |
| angefangen, mehr davon zu machen und sie zu verkaufen.“ Außerdem besorgte | |
| sie sich das Lastenrad und fing an, Werke von Streetartkünstler*innen | |
| durch die Bezirke zu fahren – wie eine mobile Ausstellung. | |
| Deutungen: Auf den ersten Blick halten viele das Material ihrer | |
| Schmuckstücke für Keramik. Dann sehen sie, dass jedes Teil ein Unikat aus | |
| Graffitiresten ist, und erkennen in den Ohrringen, Anhängern und | |
| Armbändern plötzlich Inseln oder Länder, manchmal sogar den Umriss ihrer | |
| Heimat, erzählt Broodthuis Gravier. „Ich selbst sehe Schatzkarten darin | |
| oder Talismane. Und einen Teil der Berliner Geschichte, die man mit sich | |
| herumtragen kann.“ | |
| Lieblingsstück: Ein Dreieck, das sie am Hals über ihrem tätowierten | |
| Brustkorb trägt, ist ihr Lieblingsstück: „Ich fand es auf dem Boden, es | |
| glänzte und zog mich an.“ Broodthuis Graviers Kundschaft besteht aus | |
| Tourist*innen, Kunstliebhaber*innen, Künstler*innen, Hipstern. Es | |
| überrascht sie, dass auch ältere Menschen sich für ihre Arbeiten | |
| interessieren. | |
| Zurückgeben: Auch bei ihrer Familie komme das, was Marion Broodthuis | |
| Gravier macht, mittlerweile gut an, sagt sie. „Sie haben mich als Kind der | |
| Kunstgeschichte gezeugt. Heute bin ich diejenige, die ihnen etwas über | |
| moderne Kunstformen beibringen kann.“ Vor allem ihr Vater sei anfangs wenig | |
| begeistert gewesen. „Heute nickt er mir zufrieden zu.“ | |
| Glück: „Ich mache gerade in Berlin nichts anderes, als glücklich zu sein“, | |
| sagt Broodthuis Gravier. Doch die Sache mit dem Glück sei „tricky“, denn | |
| Glück sei wie die Rohware ihrer Kreationen: „Wenn man nicht vorsichtig | |
| damit umgeht, kann alles plötzlich in der Tonne landen.“ | |
| 7 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/c/LesFoliesDeMarion | |
| ## AUTOREN | |
| Luciana Ferrando | |
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