# taz.de -- Hausbesuch bei einer Biegsamen: Stratosphere Baby | |
> Die 85-jährige Elfy Braunwarth ist extrem biegbar. Aber nicht nur ihren | |
> Körper, sondern auch ihr Denken hält sie flexibel. | |
Bild: Früher hing sie am Trapez, heute kann sie sich immer noch gut verbiegen:… | |
Elfy Braunwarth kann sich nicht vorstellen, dass ihr Körper ihr nicht | |
gehorcht. Mit 85 Jahren bringt sie Männer im Fitnessstudio zum Staunen. | |
Draußen: Es herrscht rege Bautätigkeit in der Altstadt von Niederburg, | |
einem Stadtteil von Konstanz. Kräne bewegen sich nach rechts, nach links. | |
Die Caritas lässt die ehemalige Mädchenschule des Klosters Zoffingen zum | |
Pflegeheim umbauen. Seit Langem protestieren die Leute im Viertel dagegen. | |
Ohne Erfolg. Die riesige Anlage nimmt immer mehr Platz der Altstadt ein. | |
Auch der Weg zu einem historischen Wohnturm aus dem 12. Jahrhundert ist für | |
Autos gesperrt. Um das vierstöckige historische Haus der Familie | |
Braunwarth, ganz in der Nähe, ranken sich Weinreben. Im Fenster hängt ein | |
Schild „Fremden-Zimmer zu vermieten“. | |
Drinnen: Ein altes Klavier steht als Dekoration an der Wand, darauf liegen | |
einige rostige Geräte und Werkzeuge. Eine ramponierte Uhr, die Generationen | |
die Zeit angezeigt hat. Der erste Stock dient als Rezeption, die den Gästen | |
das Gefühl eines Ferienhauses vermitteln soll. Die Treppe führt hinauf, in | |
einen Wohnraum. Nach rechts geht es ins Wohnzimmer und links ins | |
Schlafzimmer. Dort hängt ein Trapez. Und am Trapez mit dem Kopf nach unten | |
hängt Elfy Braunwarth. Sie ist 85 Jahre alt. Ihre Augen sehen nicht mehr so | |
gut und hören kann sie auch nur schwer. | |
In die Luft schwingen: Elfy Braunwarth war Elfy Morell. Unter diesem | |
Künstlernamen schwang sie sich früher artistisch in die Luft. „Stratosphere | |
Baby“ haben britische und australische Zeitungen sie in den 1950er Jahren | |
genannt. Ein großes Archiv von Zeitungsausschnitten hat Braunwarth | |
zusammengestellt. Sie ist 146 Zentimeter groß. Ungefähr so groß war auch | |
ihr Ehemann Gustav Braunwarth-Morell. Der war 30 Jahre älter als seine | |
Frau. Deswegen steht in einem Zeitungsartikel von damals: „Mister Morell | |
und seine Tochter“. | |
Ihr Mann: Gustav Morell war nicht nur ihr Lebensgefährte, sondern auch ihr | |
Lehrmeister. Gemeinsam waren sie auf Tournee von England bis Neuseeland. | |
Lange hat das Ehepaar jedoch nicht zusammengelebt. In der | |
Kriegsgefangenschaft hatte Morell Gelbsucht bekommen, die nie ausgeheilt | |
sei, erzählt Elfy Braunwarth. Er starb 1967. Sie war da 31 und mit ihrem | |
Sohn allein. Heute ist sie nicht mehr allein. Im dritten Stock wohnt ihr | |
Sohn mit seiner Frau. „Und es gibt laufend Gäste bei uns“, sagt sie. | |
Highlights: Damals schrieben Zeitungen, wie das kleine Mädchen auf einen 45 | |
Meter hohen Stahlmast kletterte, an der Spitze einen Handstand machte und | |
dazu die Trompete blies. „Die Veranstalter sagten: ‚Elfy kann man oben | |
nicht erkennen, weil sie zu klein ist‘“, erzählt Braunwarth heute. „Also | |
wurde die Stange um 20 Meter gekürzt. Aber 25 Meter war auch noch ziemlich | |
hoch.“ | |
Zwischen Leben und Tod. Hatte sie keine Angst, wenn sie da oben stand? | |
„Darf man nicht haben. Nie. Ich kenne keine Artistinnen, die Angst haben“, | |
sagt sie und blickt auf das Holzkreuz an der Wand. Ob sie dabei auf Gott | |
vertraut habe? Ihr seufzendes „Ja“ klingt fast wie ein „Nein“. „Ich k… | |
den Gott, wie er in der Bibel vorkommt, nicht nachvollziehen. Heute kann | |
man alles erforschen“, sagt sie. Ein einziges Mal habe sie sich an Gott | |
gewandt. Aus Angst. Es sei in Neuseeland gewesen. Auf einem Hügel sollte | |
sie wieder ihre Trompete an der Spitze eines Stahlmastes blasen. Die | |
Veranstalter wollten die Nummer wegen eines drohenden Gewitters absagen. | |
„Die letzte Vorstellung überhaupt lass ich mir nicht nehmen. Ich gehe | |
hoch“, lautete ihre Antwort. Auf halber Höhe des Stahlmastes setzen Sturm | |
und Regen ein. Sie konnte weder hoch- noch runterrutschen, erinnert sie | |
sich. „Ich bin nur am Leben geblieben, weil Gott einen Schutzengel | |
geschickt hat“, ist sie überzeugt und holt eine dünne Kette unter ihrer | |
Bluse hervor, an der ein kleiner Engel hängt, der ein Herz in den Händen | |
hält. | |
Anerkennung: Den Schutzengel hatte sie als Kind nicht. In der Schule habe | |
sie viel gelitten. „Kleine Menschen wurden ausgelacht“, erzählt sie. „Man | |
redet immer noch Blödsinn nicht nur über die kleinen, sondern auch über die | |
dicken Menschen und diejenigen, die im Rollstuhl sitzen“, sagt sie. „Vor | |
allem diese Menschen brauchen Anerkennung, die sie inspiriert und motiviert | |
und am Leben hält.“ | |
Kinderclown: 20 Jahre lang war sie Artistin. „Früher waren Menschen | |
begeistert vom Zirkus und den Blumenshows. Heute hat die Technik das Leben | |
enorm verändert. Das Fernsehen zeigt alles.“ Nachdem sie zu alt für das | |
Trapez geworden war, die Fans in Konstanz sie aber noch immer für die | |
Biegsamkeit ihres Körpers bewunderten, verkleidete sie sich als Clown und | |
gab noch 20 Jahre lang Vorstellungen. Dabei stieg sie in eine hübsch | |
verpackte kleine Kiste. Im Zimmer des Geburtstagskindes kletterte sie dann | |
langsam heraus, erst mit einem Bein, dann mit einem Arm, am Ende kam ihr | |
Kopf. | |
100 und 1 Figuren: An ihrem 55. Geburtstag lud sie alle Kinder, für die sie | |
den Clown gespielt hatte, zu einer Feier ein. 120 Familien kamen und | |
brachten Geschenke mit, die bis heute ihre Schränke im Wohnzimmer füllen. | |
Clown-Figuren aus Porzellan und Stoff, als Puppe oder als Deko auf einem | |
Teller. | |
Umsatteln: Bis zu ihrem 75. Lebensjahr trat sie auf. Einmal rief ein Kind | |
mitten in die Vorstellung hinein: „Du bist aber eine Oma!“ Sie reagierte: | |
„Ja, ich bin eine Oma, aber eine, die nicht aufgeben möchte.“ Menschen zum | |
Lachen zu bringen sei eben schwer. Sie fand eine neue Passion und neue | |
Bewunderer. Sie ging ins Fitnessstudio und drehte sich fortan um die | |
dortige Reckstange. „Ich bin mit Sport verheiratet“, sagt sie. Zweieinhalb | |
Stunden dreimal in der Woche geht sie zum Training. „Eine Stunde | |
Bodengymnastik, dann Hanteln, zum Schluss gehe ich an die Stange“, sagt | |
sie. Anstatt von Kindern werde sie nun von schwitzenden Männern bewundert. | |
Politik: Jetzt, wo sie im Ruhestand ist, interessiere sie sich mehr für | |
Politik als vorher. „Die meisten Politiker machen nur Versprechungen und | |
können sie nicht halten“, sagt sie. „Es ist schwer zu erfühlen, was andere | |
Menschen wollen.“ Doch eines müsse der Staat schon bieten: Schutz. Einmal | |
habe sie einen anonymen Anruf bekommen. „Ihr Sohn liegt im Krankenhaus und | |
ihm geht es nicht gut“, habe ein Unbekannter am Telefon gesagt. Der | |
berühmte Enkeltrick: Die Anrufer wollen erzwingen, dass man die Wohnung | |
verlässt. „Ich hatte einen Schock“, erzählt sie. Beruhigt habe sie sich | |
erst, als sie ihren Sohn, der gar nicht in der Stadt gewesen sei, erreicht | |
habe. | |
Piksen für die Fitness. „Ich war lange eine Impfgegnerin und eine kleine | |
Querdenkerin“, sagt Braunwarth. Der Grund: „Ich war in meinem Leben fast | |
nie krank. Ich habe nie Medikamente geschluckt und bin immer noch allgemein | |
gegen Tabletten und Tropfen.“ Auch dafür hat sie eine Erklärung: „Ich habe | |
ein gesundes, sportliches Leben geführt.“ Sie habe sich deshalb geweigert, | |
sich impfen zu lassen. Doch wolle sie sich jetzt schnell von den | |
Einschränkungen für Nicht-Geimpfte befreien. Allein um wieder in ihr | |
Fitnessstudio gehen zu können, lässt sie sich nun piksen. | |
Es ist nämlich so: „Ich will nicht alt werden und möchte meine | |
Bizepsmuskeln nach vorne bringen“, sagt sie kokett. Dann fragt sie, ob ihr | |
Wunsch nicht komisch klinge für eine Dame in ihrem Alter. | |
26 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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