| # taz.de -- Zwangsräumung in Kreuzberg: Auf die Straße gesetzt | |
| > Die Wohnung eines Mieters wird am Montag geräumt. Zwangsräumungen zu | |
| > verhindern ist inzwischen ein politisches Ziel im Kampf gegen | |
| > Obdachlosigkeit. | |
| Bild: Demonstrant:innen vor der zwangsgeräumten Kreuzberger Wohnung in Mehring… | |
| BERLIN taz | Am Montagmorgen sitzt ein Demonstrant vor dem Mehringdamm 67 | |
| und zupft ein selbst gebasteltes Streichinstrument. Ein Polizist steuert | |
| auf ihn zu und erklärt, dass er erst dann musizieren und die Musik über | |
| Lautsprecher einschalten darf, wenn die Kundgebung angefangen hat. Denn | |
| noch hat sie nicht begonnen – die Kundgebung gegen die Zwangsräumung des | |
| Kreuzberger Mieters, der von allen Daniel genannt wird. | |
| Laut Angaben des Bündnisses [1][Zwangsräumung verhindern] hatte Daniel in | |
| seiner Wohnung die Miete gemindert, nachdem seine Wohnung über einen | |
| längeren Zeitraum heruntergekommen und unbewohnbar geworden war. Sein | |
| Vermieter Samuel Czamy hatte daraufhin rechtlich die [2][Zwangsräumung | |
| eingeklagt]. | |
| Mit Mütze, Schal und Maske bekleidet stellen sich etwa zehn Demonstrierende | |
| um den Eingangsbereich des Mietshauses am dicht befahrenen Mehringdamm, um | |
| gegen die Räumung zu protestieren. Begleitet werden sie von etlichen | |
| Polizeibeamt*innen, die heute mit drei Mannschaftswagen hier sind. | |
| „Was ist das für eine Barbarei, Leute einfach auf die Straße zu setzen“, | |
| schimpft ein Demonstrant vom Bündnis Zwangsräumung verhindern, der sich der | |
| taz gegenüber als Tim Riedel ausgibt. Er sei da, weil er es wichtig findet, | |
| sich solidarisch zu zeigen und auf das Problem aufmerksam zu machen. Auf | |
| die Frage, ob ihr Bündnis tatsächlich Zwangsräumungen verhindern konnte, | |
| nickt er. „Bei öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften geht es fast immer, | |
| weil sie Angst um ihr Image haben. Bei Privaten ist es schwieriger, weil es | |
| total abgefallene Spekulantenschweine sind.“ | |
| ## Schubsen und provozieren | |
| Kurz nach acht Uhr kommt es zu den ersten Handgreiflichkeiten zwischen | |
| Demonstrierenden und der Polizei. Einzelne Protestierende versuchen, vom | |
| Fahrradweg auf den Gehweg zu gelangen, um die Eingangstür zu erreichen. Die | |
| Beamten stoßen sie derweil immer wieder zurück, einige Protestierende | |
| verlieren ihr Gleichgewicht und fallen hin. Es kommt zu längeren | |
| Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen, die sich | |
| mittlerweile verdreifacht haben. | |
| Die Lage beruhigt sich erst wieder, nachdem zwölf Menschen eine | |
| Sitzblockade auf dem Fahrradweg errichten. Die weiteren | |
| Teilnehmer:innen verteilen sich auf eine Baustelle dahinter, da die | |
| Polizei keine Demonstrierenden mehr auf den Gehweg lässt. Bis zur Ankunft | |
| der Gerichtsvollzieherin um 9 Uhr ertönen von der Kundgebung laute Musik | |
| und Parolen wie „Alle zusammen gegen jede Räumung“ und „Ob Daniel, ob | |
| Kalle, wir bleiben alle“. | |
| Die Nachbarschaft aus dem gentrifizierten Bergmannkiez zeigt sich | |
| solidarisch mit Daniel. So wird dreißig Meter weiter in der Bergmannstraße | |
| ein großes Banner mit den Worten „Zwangsräumungen töten. In Gedanken an | |
| Peter H. Daniel bleibt. Michel bleibt“ herabgelassen. Adressiert wird hier | |
| der Kreuzberger Schlagzeuger und Klangkünstler Peter Hollinger, der sich am | |
| 31. Mai 2021 kurz vor seiner Zwangsräumung das Leben genommen hat. Dem | |
| Gericht, der der Eigenbedarfsklage von Hollingers Vermieterin stattgegeben | |
| hatte, war die Suizidabsicht bekannt. | |
| ## Notwendige Bekämpfung von Obdachlosigkeit | |
| Nur wenige Zwangsräumungen haben eine hohe Aufmerksamkeit wie diese, die | |
| meisten gehen in aller Stille über die Bühne – und das quasi Tag für Tag. | |
| 2019 gab es nach Angaben der Sozialverwaltung 4.299 Räumungsaufträge von | |
| Berliner Gerichten an Gerichtsvollzieher. 2020 war die Zahl zwar weitaus | |
| geringer (3.111), allerdings wurden in diesem Jahr wegen Corona | |
| Zwangsräumungen zeitweise auch ausgesetzt, tatsächlich vollstreckt wurden | |
| im vorigen Jahr 1.702. Dass Handlungsbedarf besteht, hat auch die Politik | |
| erkannt: Zwangsräumungen zu verhindern ist inzwischen ein zentrales Ziel im | |
| Kampf gegen Obdachlosigkeit – nicht zuletzt weil die Unterbringung in | |
| Notunterkünften mit Tagessätzen von bis zu 50 Euro pro Person die | |
| Allgemeinheit weit teurer zu stehen kommt als etwa die Übernahme von | |
| Mietschulden. | |
| So ist eine „Präventionsstrategie gegen Wohnraumverlust“ einer der | |
| Eckpfeiler im neuen Masterplan zur [3][Verhinderung von Wohnungs- und | |
| Obdachlosigkeit bis 2030], den Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) | |
| Anfang September vorgestellt hat. Dabei geht es vor allem darum, die | |
| Sozialämter der Bezirke, genauer: die sozialen Wohnhilfen zu stärken, damit | |
| sie rechtzeitig aktiv werden können, etwa durch aufsuchende Hilfen bei den | |
| Betroffenen und Gespräche mit Vermietern, um eine drohende | |
| Wohnungslosigkeit durch Zwangsräumung zu verhindern. | |
| Eines der Probleme ist allerdings, dass die sozialen Wohnhilfen gar nicht | |
| über alle drohenden Zwangsräumungen informiert werden. So seien die | |
| Gerichte nur in Fällen von Mietschulden gesetzlich verpflichtet, die | |
| Bezirke über eine eingereichte Räumungsklage zu informieren – nicht jedoch | |
| bei Klagen wegen Eigenbedarfs oder eines etwaigen „Fehlverhaltens“ des | |
| Mieters, erklärt Carsten Jung von der Fachgruppe „Wohnungslose Menschen“ | |
| der Landesarmutskonferenz (LAK). Jung hat für die LAK eine Befragung der | |
| Berliner Sozialämter zum Umgang mit Mitteilungen über anhängige | |
| Räumungsverfahren im Jahr 2019 gemacht und festgestellt: „Es gibt eine | |
| Grauzone, wo man durch die Hilfsangebote fallen kann.“ | |
| ## Stärkere Nachbarschaft und Präventionsteams | |
| Zwar gibt es auch noch die Pflicht des Gerichtsvollziehers, eine | |
| tatsächlich terminierte Zwangsräumung den Bezirken zu melden. Dies aber | |
| erstens nur, wenn der Gerichtsvollzieher denkt, dass dadurch | |
| Obdachlosigkeit des Mieters droht, also nach eigenem Ermessen, zweitens ist | |
| dann kaum noch Zeit für die Wohnhilfen, präventiv etwas zu unternehmen. | |
| Jung und die anderen Autoren der erwähnten Befragung fordern daher eine | |
| frühzeitige Information der Bezirke über alle anhängigen Räumungsklagen – | |
| etwa im Wege einer Vereinbarung mit den Berliner Amtsgerichten. | |
| Zudem, ergänzt Barbara Eschen, Vorsitzende der LAK, auf taz-Anfrage, | |
| müssten die bezirklichen Fachstellen, damit sie immer frühzeitig agieren | |
| können, personell besser aufgestellt werden. „Es gibt inzwischen eine | |
| erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema“, hat sie festgestellt, „aber die | |
| Bezirke handeln noch sehr unterschiedlich.“ | |
| Das ist auch das Fazit der LAK-Befragung: So würden etwa 11 von 12 Bezirken | |
| angegeben, bei anstehenden Zwangsräumungen grundsätzlich Hausbesuche | |
| anzubieten, um über mögliche Hilfen zu sprechen, vier Sozialämter hätten | |
| sogar mobile aufsuchende „Präventionsteams“ gegen drohende Zwangsräumung | |
| eingerichtet, aber was dies bringe, könnten die Bezirke nicht sagen. „Eine | |
| Erfolgsanalyse findet bislang nicht statt“, so Jung. | |
| ## Für Daniel zu spät | |
| Breitenbachs Sprecherin erklärte, letztlich sei das Ziel, die bezirklichen | |
| Wohnhilfen zu „Fachstellen“ auszubauen, die regelhaft einen Hausbesuch bei | |
| Betroffenen machen, „sofern nicht kurzfristig der bisher übliche Weg des | |
| Anschreibens greift“. Auf diesem Weg wolle man eine „deutlich größere | |
| Anzahl an Personen als bisher“ erreichen. Zur Vision dieser Fachstellen | |
| gehöre aber auch eine gute Vernetzung im Sozialraum. Man wolle „gut | |
| funktionierende, kleinteilige sozialräumliche Strukturen“, zum Beispiel | |
| Nachbarschaftszentren, die von den Angeboten der Fachstellen wissen und | |
| Menschen, die – warum auch immer – von Wohnungslosigkeit bedroht sind, | |
| dorthin verweisen. Ein solches „Haus der Hilfe“ soll demnächst in der | |
| Reichenberger Straße in Kreuzberg eröffnen. | |
| Solche Pläne nützen Daniel nicht mehr. Nachdem die Gerichtsvollzieherin | |
| gegen 9.20 Uhr unter lautem Protest und Polizeischutz die Wohnung wieder | |
| verlassen hat, erscheint er wenig später in Begleitung einer Freundin und | |
| setzt sich auf einen Stuhl des Nachbarcafés. Daniel zeigt sich schockiert | |
| und gibt sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verstecken. Er wirkt | |
| erschöpft. „Ich werde erst einmal aufs Land flüchten und eine Woche | |
| durchschlafen“, erzählt er. Wenn er wiederkommt, will er bei Bekannten | |
| unterkommen, wo er erst einmal kostenlos wohnen kann. | |
| 25 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://zwangsraeumungverhindern.nostate.net/ | |
| [2] /Protest-gegen-Zwangsraeumungen-in-Berlin/!5810361 | |
| [3] /Kampf-gegen-Wohnungslosigkeit/!5797411 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
| Shoko Bethke | |
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