# taz.de -- Idealtypen von Körpern: Hässlich und krank | |
> Unser Autor denkt über Körper nach. Und merkt: Er hat keine Ahnung, wie | |
> echte Körper aussehen. | |
Bild: Der menschliche Körper: Wie sieht der eigentlich aus? | |
Es ging los mit diesen anatomischen Postern im Biounterricht, wissen Sie | |
noch? Nein, vielleicht schon früher, vielleicht schon mit den Puppen. Mit | |
den Figuren, die ich aus Sand formte. Dass ich ein Bild davon bekam, wie | |
ein Körper aussieht. | |
Und nun, jetzt, am Ende der Woche mit dem [1][Intersex-Awareness-Tag] und | |
dem Berliner Pornfilmfestival, stelle ich fest, dass ich keine Ahnung habe, | |
wie so was eigentlich aussieht: ein Körper. | |
Die Körper, die ich kennenlernte, durch die medizinischen Zeichnungen, | |
durch meine Spielsachen, durch die Menschen in meinem Leben, die man | |
„schön“ nannte oder „gesund“, waren binär. Sie waren männlich oder | |
weiblich. Und je nachdem, ob die männlich oder weiblich waren, hatten sie | |
eine bestimmte Größe, eine bestimmte Masse und Behaarung. Je nachdem ob sie | |
männlich oder weiblich waren, hatten sie eine entsprechende Verteilung von | |
Fett, Muskeln, Knochen. Wenn nicht, wenn hier Muskeln fehlen oder Fett zu | |
viel ist oder Haare, oder Genitalien anders aussehen, dann sind die Körper | |
krank, versehrt – oder hässlich. | |
Ich spreche nicht über echte Körper, sondern über Idealtypen. An den beiden | |
Idealtypen von Körpern auf den anatomischen Postern im Bioraum messen wir | |
Gesundheit, Geschlecht, Schönheit, Fitness, Sexyness. Wert. An der | |
Abweichung vom Ideal haben wir in der Vergangenheit auch eine fixe Idee | |
namens „Rasse“ gemessen. Wir haben bis vor Kurzem gestattet und empfohlen, | |
[2][Babys zu operieren, um sie diesen Idealen anzugleichen]. Und auf | |
vergleichsweise ganz banaler Ebene erfolgen nach ihnen auch die Castings in | |
den Unterhaltungsmedien: Netflix-Figuren, Instagram-Promis und | |
Mainstream-Pornodarsteller*innen. | |
Das ist keine Verschwörung. Das ist der kollektive Wunsch nach Gesundheit, | |
Schönheit und Glück, der sich immer wieder an den Idealkörpern ausrichtet. | |
An dem ich mich selber ausrichte, mich kleidend, Sport machend und andere | |
begehrend. Und die unerreichbar sind, für die allermeisten Menschen. Und | |
trotzdem geben wir Leuten Shit dafür, wenn sie unserer Meinung nach hier zu | |
haarig sind und dort zu fett. Oder eine zu gewölbte Stirn haben für eine | |
Frau oder uns zu schlecht ins binäre Geschlecht passen. Und [3][beschwören | |
dann objektive Schönheit] und Hässlichkeit und Gesundheit vor uns selbst, | |
um nicht zugeben zu müssen, dass wir unseren Blick dabei maximal verengen. | |
Je nach Definition und Schätzung sind [4][bis zu zwei Prozent der Menschen | |
inter(sex)], haben also aus medizinischer Sicht irreguläre | |
Geschlechtsmerkmale. Ebenso je nach Schätzung kommen mehrere Prozent trans | |
und nonbinäre Menschen hinzu. Und meiner ganz persönlichen Schätzung | |
zufolge kämpfen 99,9 Prozent der Menschen in irgendeiner Weise damit, dass | |
sie nicht so aussehen wie die Figuren auf dem Anatomie-Poster. | |
Was schön ist und gesund und zufrieden, sollten wir nicht von Schablonen | |
lernen. Sondern von den Körpern, die abweichen. | |
29 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://gay.ch/blog/26-oktober-intersex-awareness-day | |
[2] /Umgang-mit-intersexuellen-Kindern/!5361693 | |
[3] /Anorexie-Gruppen-im-Internet/!5799572 | |
[4] https://www.regenbogenportal.de/informationen/inter-was | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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