# taz.de -- Anorexie-Gruppen im Internet: „Schöne Mädchen essen nicht“ | |
> Junge Frauen unterstützen sich online beim Hungern, fremde Männer | |
> „coachen“ sie – mit verstörenden Mitteln. Eine Recherche in | |
> Anorexie-Gruppen. | |
Bild: In Chatgruppen werden die Körper junger Mädchen hart beurteilt | |
Die Nachricht poppt an einem Samstagabend um 21.10 Uhr auf meinem Handy | |
auf. Ein Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, schreibt mir: | |
„Ich weiß was dünn ist … ob es das richtige ist sich die Gesundheit so zu | |
ruinieren musst du selbst wissen Ich würds dir aber raten wenn ich mir dein | |
ganzes fett ansehe“. | |
Ich habe den Mann im Internet kennengelernt. Er bietet dort als sogenannter | |
Ana-Coach seine Dienste an. Ana steht für [1][Anorexie], Magersucht. Der | |
Mann hilft essgestörten Mädchen und jungen Frauen dabei, noch magerer zu | |
werden, als sie sowieso schon sind. | |
Ich habe ihn während meiner Recherchen für eine Schülerzeitung | |
kennengelernt. Ich habe so getan, als sei ich daran interessiert, mich auf | |
ein Gewicht weit unter dem Normalgewicht herunterzuhungern. Ich bin 15 | |
Jahre alt und gehe auf ein Berliner Gymnasium. Mit Essen habe ich selbst | |
keine Probleme. Das Thema Magersucht interessiert mich, weil es auch in | |
meinem Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr Mädchen gibt, die Probleme | |
damit haben. | |
Die Recherche wird mich in eine Welt führen, in der magersüchtige | |
Teenagerinnen gegenseitig kontrollieren, was sie essen dürfen – und sich | |
bestrafen, wenn die verabredete Kalorienmenge nicht eingehalten wird. Und | |
sie führt mich zu Männern, die sich „Coaches“ nennen und denen auf der Ja… | |
nach Nacktbildern fast jedes Mittel recht zu sein scheint. Es ist die Welt | |
der Pro-Ana-Communitys, die in sozialen Medien, Onlineforen und | |
Messengerdiensten zusammenkommen. | |
## Keine harmlose Marotte | |
Nach Einschätzung vieler Expert:innen ist Magersucht unter jungen Frauen | |
weit verbreitet. Sie ist keine harmlose Marotte, die man nicht weiter ernst | |
zu nehmen braucht. Für viele endet sie tödlich. Fast jede:r zehnte | |
Betroffene stirbt an den körperlichen Folgen oder begeht mit diesem | |
Krankheitsbild Suizid, heißt es in einem [2][Artikel des Deutschen | |
Ärzteblatts]. Und Magersucht ist in der Regel auch nichts, was von allein | |
wieder verschwindet. Viele Betroffene haben jahrelang mit ihr und ihren | |
Auswirkungen zu kämpfen. | |
Bei Magersucht unterscheidet man zwei Kategorien: Anorexia nervosa und | |
Anorexia athletica. Bei der ersten hungern sich die Betroffenen runter, bei | |
der zweiten machen sie zudem exzessiv Sport. Daneben gibt es noch Bulimie, | |
bei der die Betroffenen entweder extrem viel essen, nur um sich danach zu | |
erbrechen (Purging-Typ), oder Essattacken haben, die aufgenommene Nahrung | |
aber bei sich behalten (Non-purging-Typ) und sie dann durch Fasten oder | |
Sport auszugleichen versuchen. Neben den „Pro-Ana“-Communitys gibt es auch | |
die „Pro-Mia“-Communitys für Bulimiekranke. | |
In den Pro-Ana-Communitys verherrlichen die Betroffenen ihre Krankheit, | |
geben sich Abnehmtipps und motivieren sich gegenseitig. Meistens posten sie | |
dazu bei Tumblr, Pinterest, Instagram oder in Messengern Fotos von extrem | |
dünnen, trainierten oder knochigen Körpern, die sie mit einschlägigen | |
Hashtags versehen. Das Kürzel „-spo“ steht für „Inspiration“. | |
Manchmal schicken Betroffene sich auch Bilder, auf denen normale bis | |
übergewichtige Menschen abgebildet sind. Das soll abschreckend wirken. Oder | |
sie schicken sich vulgäre Texte, die ihre Leser:innen gezielt beleidigen | |
sollen, etwa als „fettes Schwein“. Mit anderen Botschaften wiederum werden | |
die Leser:innen regelrecht in den Arm genommen und mit Zuversicht | |
überschüttet. Und dann gibt es noch Motivationssprüche wie „Nichts schmeckt | |
so gut, wie sich dünn sein anfühlt“; „Hungry to bed, hungry to rise – | |
makes a girl a smaller size“, also „Hungrig ins Bett, hungrig aufstehen – | |
sorgt dafür, dass Mädchen eine kleinere Größe haben“; und „Schöne Mäd… | |
essen nicht“. | |
In den Foren und Chatgruppen werden die Süchte oft auch vermenschlicht. | |
Viele Mädchen schreiben Briefe an ihre „beste Freundin Ana“ und richten | |
ihre Lebens- und Essgewohnheiten ganz nach deren Regeln aus, fast wie bei | |
einer Sekte. Das ist vor allem in den Ana- und weniger in den | |
Mia-Communitys (Bulimie) zu beobachten, doch die Übergänge sind fließend. | |
„Anas“ Regeln beziehen sich vornehmlich auf Nahrungsaufnahme und Sport, | |
aber auch auf Selbstbestrafung, also noch mehr Hungern oder | |
selbstverletzendes Verhalten. | |
Auf Instagram ist es besonders einfach, mit Anhängerinnen der Ana-Community | |
in Kontakt zu treten. Wenn man die richtigen Suchbegriffe kennt, wird man | |
schnell fündig. Oft sind ihre Instagram-Biografien durch Informationen | |
ergänzt. Das kann neben dem Nutzernamen die Größe, das Alter oder die | |
Nationalität sein, aber auch ihr Startgewicht, ihr aktuelles Gewicht, ihr | |
Zielgewicht, ihr Traumgewicht und ihr BMI (Body-Mass-Index). | |
Die Mädchen und jungen Frauen geben in ihrem Profil außerdem an, ob sie Mia | |
(Bulimie) oder Ana (Anorexie) haben. Darüber hinaus findet man häufig den | |
Zusatz „pro“ oder „not pro“, der zeigt, ob sie ihre Essstörung als etw… | |
Positives sehen oder sich davon distanzieren. Unterscheiden tun sich die | |
Konten der Pro-Anas und Not-pro-Anas jedoch selten. Fast alle posten | |
Gewichts- und Kalorientracker, Inspirationsbilder und „Bodychecks“, also | |
Bilder vom eigenen Körper, oftmals nackt, aber an den entsprechenden | |
Stellen zensiert, oder in Unterwäsche. | |
Die Mädchen, mit denen ich im Laufe meiner Recherche in Kontakt trete, sind | |
jung, meistens minderjährig, oft fühlen sie sich wertlos und | |
vernachlässigt. Auf Instagram finde ich auf Anhieb Hunderte, die sich als | |
Ana oder Mia beschreiben. Neben untergewichtigen Mädchen sehe ich auch | |
junge Mütter und Studentinnen. | |
Doch die Instagram-Auftritte sind nur ein kleiner Teil. Je weiter man sich | |
in dieses Milieu hineinbewegt, desto abgründiger wird es. Schnell stoße ich | |
auf die Möglichkeit, an geschlossenen Gruppenchats und privaten Coachings | |
teilzunehmen. | |
Zwar wurde der Zugang zu solchen Angeboten in den letzten Jahren erschwert, | |
weil die entsprechenden Websites öfter gemeldet und von Google gesperrt | |
oder gelöscht werden, dennoch dauert es nur wenige Minuten, bis ich fündig | |
werde. Viele der Anzeigen sind erst wenige Tage, teils Stunden alt. Über | |
die dort vermerkten E-Mail-Adressen, Telefonnummern und Profilnamen soll | |
man Gleichgesinnte erreichen können. | |
Über einen Whatsapp-Einladungslink gelange ich in eine Gruppe, die sich | |
„Vorgruppe“ nennt. In der Beschreibung stehen genaue Anweisungen: „Stellt | |
euch mit Namen, CW, GW und UGW und Hobbies vor.“ Die Abkürzungen stehen für | |
das aktuelle Gewicht, das Zielgewicht und das Traumgewicht, das dann noch | |
mal unter dem Zielgewicht liegt. | |
Ich sende eine Nachricht mit fiktiven Daten in den Chat. Einen Tag später | |
schreibt mir die Gruppenleiterin, die sich als Lily vorstellt, es seien | |
noch Plätze frei, sie würde mich gerne aufnehmen. Am Nachmittag werde ich | |
zu einer Whatsapp-Gruppe mit sechs weiteren, ausschließlich weiblichen | |
Mitgliedern hinzugefügt und freundlich begrüßt. | |
Ich frage die anderen im Chat, wie lange sie schon „pro“, also Anorexie | |
bejahend, sind. Lily antwortet: „Ich würde nicht sagen, dass ich pro bin. | |
Hab mich eher damit abgefunden.“ | |
In der Beschreibung stehen die Regeln: Drei Tage Probezeit nach | |
Gruppeneintritt, Strafpunkte und Verlassenmüssen der Gruppe bei | |
Nichteinhaltung der Regeln, außerdem muss jeden Freitag ein Foto von der | |
Waage geschickt und der BMI für das Ranking der Gruppenmitglieder neu | |
berechnet werden. | |
Das Profilbild ist eine Tabelle, die anzeigt, wie viele Kalorien man | |
täglich zu sich nehmen sollte. Ich frage, ob man sich daran orientieren | |
muss. Eine Teilnehmerin schreibt: „an der auf’m profilbild orientiert sich | |
glaub ich inzwischen keiner mehr. also ich versuche immer unter 600 kcal zu | |
bleiben und wenn ich über meinem limit bin alles zu verbrennen:)“. | |
In ihren Tagesprotokollen geben die Mädchen meistens an, zwischen null und | |
1.000 Kalorien zu essen. Sobald es mehr als 1.000 Kalorien sind, schämen | |
sie sich: „natürlich gibt es auch tage an denen es ziemlich scheisse läuft | |
gerade wenn mein bulimisches verhalten wieder extremer wird und es zu FA’s | |
[Fressattacken] kommt in denen ich locker 3000 kcal esse:/“. | |
Daraufhin schreibt eine andere: „es ist halt echt so schlimm, insbesondere | |
das feeling danach.. ich hatte eben auch nen krassen binge und konnte | |
danach nicht erbrechen weil meine speiseröhre so am arsch ist. deshalb | |
gibt’s morgen warscheinlich kein update zu meinem gewicht weil ich mich | |
nicht auf die waage stellen will. also das ganze wochenende nicht“. | |
Als ich von den anderen wissen will, was ihr Traumgewicht ist, schreibt | |
eine: „Ich will meine Knochen sehen“ – „Und fühlen“. | |
Und: „Bei mir geht es gar nicht mehr so wirklich ums Aussehen sondern um | |
Kontrolle und Nummern. Es gibt mir auch Halt und das Gefühl von | |
Geborgenheit.“ | |
Nach einigen Tagen beschließen Lily und ihre Co-Gruppenleiterin, neue | |
Regeln einzuführen. Von nun an gibt es einen zweiten Gruppenchat. In der | |
„Protokollgruppe“ sollen wir jeden Abend Auskunft darüber geben, was wir | |
gegessen und getrunken haben, wie viele Kalorien wir verbrannt haben und | |
wie wir uns damit fühlen. Anhand eines Punktesystems werden unsere | |
Auskünfte bewertet. Minuspunkte gibt es bei Essattacken und Alkohol. | |
Letzteres, weil Alkohol viele Kalorien hat und man schlechter Fett | |
verbrennt. | |
Warum tun diese Mädchen sich so etwas an? Um das Krankheitsbild besser zu | |
verstehen, spreche ich mit einer Expertin über die psychischen Hintergründe | |
von Essstörungen. Julia Leithäuser ist Psychotherapeutin und | |
stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung | |
Nordrhein. Sie sagt: „Es ist derzeit umstritten, welchen Einfluss die | |
Vererbung genetischer Dispositionen auf die Entwicklung einer Essstörung | |
hat. Man geht von sogenannten multifaktoriellen Ursachen aus.“ Mit anderen | |
Worten: Es gibt viele Faktoren, die eine Bulimie oder Anorexie auslösen | |
können. | |
Leithäuser sagt auch: „Eine Körperschemastörung ist eigentlich Bedingung, | |
um mit Anorexie diagnostiziert zu werden.“ Anorektische Frauen sind ihr | |
zufolge oft perfektionistisch und diszipliniert veranlagt. Sie litten trotz | |
überdurchschnittlicher Leistungen an Minderwertigkeitskomplexen. | |
Bulimikerinnen seien impulsiver, kommunikativer und hätten meist auch noch | |
eine Gewichtsphobie. Beide Erkrankungen gingen häufig mit | |
Stimmungsschwankungen einher. Laut der Psychologin sind bis zu 1 Prozent | |
aller Mädchen und Frauen in Deutschland von Anorexie und zwischen 2 und 4 | |
Prozent von Bulimie betroffen – die Dunkelziffer sei Schätzungen zufolge | |
jedoch höher. Die Datenlage zu Essstörungen bei männlichen Betroffenen ist | |
eher schlecht. | |
Die Pro-Ana-Communitys sind laut der Psychologin auch deshalb gefährlich, | |
weil der Austausch mit Gleichgesinnten ohne psychologische Betreuung die | |
Krankheit „zumindest aufrechterhalten“ kann. Leithäuser sieht hinter dem | |
Austausch mit anderen Erkrankten vor allem den Wunsch nach Anerkennung und | |
Bestätigung. Insbesondere in der Pandemiezeit seien da viele zu kurz | |
gekommen: „Wir alle brauchen jemanden, der uns ab und zu sagt, dass wir das | |
gut machen oder in dem Kleid gut aussehen. Das hat in den letzten Monaten | |
einfach gefehlt.“ | |
Aber was macht es mit dem Körper, wenn man kaum etwas zu sich nimmt? | |
Ich telefoniere mit der Ernährungsberaterin Manuela Marin. Sie sagt: „So | |
eine dauerhafte Unterernährung von jungen Menschen kann zu ganz vielem | |
führen: Haarausfall, dass die Periode ausbleibt, Wachstumsverzögerung, | |
Osteoporose, manche haben auch Schwächeanfälle.“ Wenn Betroffene | |
Essattacken haben, sei das aber eigentlich ein gutes Zeichen. Es zeige, | |
dass „der Körper sich gegen die Sucht wehrt“. | |
Im Gruppenchat behaupte ich, mit dem Gedanken zu spielen, mir einen | |
Ana-Coach zu suchen, und frage nach Erfahrungen. „Nein bitte nicht. Ganz | |
schlimme Erfahrungen“ – „die meisten ana-coaches sind meistens bloß | |
irgendwelche ekligen notgeilen typen, die einem gar nicht mal helfen | |
wollen, sondern im laufe der zeit bloß bilder von einem verlangen“ – „ne… | |
mach das nicht das sind alles nur pedos“, kriege ich als Antwort. | |
Ein 14-jähriges Mädchen, mit dem ich über Instagram in Kontakt bin, | |
schreibt mir auf Englisch: „Das war eine der schlimmsten Erfahrungen meines | |
Lebens. Sie sind schrecklich, ich hatte zwei. Weil nach dem ersten dachte | |
ich, ich hätte nur Pech gehabt. Aber der zweite war zuerst cool, dann | |
wollte er Nacktfotos mit Gesicht und allem. Ich habe es nicht gesendet, ich | |
habe ihn blockiert. Besorg dir niemals einen“. Für die Recherche will ich | |
mich trotzdem darauf einlassen. Ich will mehr darüber erfahren, wie das | |
abläuft. Nach einigen Klicks habe ich die Kontaktdaten von vier Coaches. | |
Mit dreien von ihnen kommuniziere ich auf Englisch, mit einem auf Deutsch. | |
„Hey. Ich habe deine Anzeige für Coaching gesehen. Gibt es das Angebot | |
noch?“, schreibe ich einem über den Messenger Kik. | |
Zwei Tage später, kurz nach 21 Uhr, erhalte ich eine Antwort. „Stell dich | |
gerne mal vor“, schreibt er. Ich behaupte, 14 Jahre alt zu sein, bei 1,73 | |
etwa 62 Kilo zu wiegen und abnehmen zu wollen. Prompt antwortet er: „okay, | |
wie lange bist du schon ana? hast du coaching Erfahrung? was wäre dein | |
Zielgewicht?“ Und fordert „ein paar Bilder“ an, um mich einschätzen zu | |
können. Ich schreibe, dass ich es zunächst auf 57 Kilo schaffen möchte, | |
später aber auf 40 bis 42 Kilo, was bei der behaupteten Körpergröße schon | |
massiv untergewichtig wäre. | |
„Kann ich dir morgen früh Fotos schicken? Habe gerade keine guten …“, | |
behaupte ich und frage, was für Bilder er sich vorstellt. „Also mal davon | |
abgesehen das ich noch nicht weis wie du aussiehst will ich gleich mal klar | |
stellen das ich kein Fitnesstrainer oder so quatsch bin sondern Ana Coach! | |
Sprich mit so einem Ziel kriegst du von mir nur ein müdes lächeln, knochen | |
sehen und spüren ja aber dann richtig“. | |
## „Ich bin so fett“ | |
Dann kommt ein zweiter Post direkt hinterher: „Na dein körper natürlich | |
damit ich seh was man noch machen muss und ich kann nichts dafür das du | |
dich an nen coach wendest wenn du keine guten bilder parat hast also mach | |
welche“. | |
Als ich frage, wie alt er sei und seit wann Coach, schreibt er, er sei 21 | |
Jahre alt, männlich und seit 2016 Coach. | |
Nach kurzer Überlegung entscheide ich mich, ihm einen Ausschnitt von meinem | |
Bauch zu schicken. „Ich bin so fett“, schreibe ich hinterher. – „Und da… | |
kommst du mir mit so nem Ziel!? wtf was bildest du dir ein du fettes Ding … | |
das ist eine Beleidigung für mich als Coach“. „Ich brauche ein Endziel auf | |
das ich dich bringen soll damit ich weis ob es sich für mich überhaupt | |
lohnt dir die Aufmerksamkeit zu schenken“. Ein Endziel? Ich gehe noch mal 2 | |
Kilo runter, auf 38 Kilo. „geh nochmal 5kg runter mit deinem ziel und ich | |
überlegs mir Specki“, schreibt er. Noch mal 5 Kilo weniger? Das hieße: 33 | |
Kilo bei einer Körpergröße von 1,73 Meter. Ich bin schockiert, stimme aber | |
zu: „Du bist der Profi.“ | |
„ich weiß was dünn ist … ob es das richtige ist sich die Gesundheit so zu | |
ruinieren musst du selbst wissen Ich würds dir aber raten wenn ich mir dein | |
ganzes fett ansehe“, ploppt auf meinem Handybildschirm auf. „Ich kann dich | |
auch komplett kaputt machen das ist deine Wahl, ich bin nur coach und führe | |
das aus was du mir sagst“, ergänzt er. Als ich ihm im weiteren Verlauf des | |
Gesprächs sage, dass ich als „Skinnylegend“ sterben möchte, schreibt er: | |
„Ja du bist fett aber ich arbeite generell mit keinem zusammen der den | |
wunsch hat zu sterben“. | |
Ich bettele ihn an, bleiben zu dürfen. | |
Bevor das Coaching losgeht, verlangt er einen „Fake-Check“. Ich soll ihm | |
ein Bild schicken, auf dem mein Gesicht zu erkennen ist, außerdem ein | |
Zettel mit meinem vollen Namen, meinem Gewicht, dem Messengernamen und dem | |
Datum. Ich schreibe ihm, dass ich unschlüssig bin, ob ich ihm wirklich | |
vertrauen kann. Und dass ich gehört habe, manche würden das nur machen, um | |
an Nacktbilder zu kommen. | |
## „Ich erwarte Perfektion“ | |
Er gibt sich verletzt: „Ich kenne keine anderen coaches auserdem bist du | |
minderjährig Ich würde mich strafbar machen wtf“. | |
Und: „Ich mache es weil ich knochen ästhetisch und schön finde, ich mag | |
einfach keine fetten frauen das ist eklig“. | |
Als ich ihm das geforderte Foto nicht schicke, antwortet er: „sorry dann | |
bin ich hier fertig … wie gesagt ich kriege täglich mehrere anfragen … und | |
wie du mitlerweile mitgekriegt hast bin ich noch ein richtiger coach von | |
denen es kaum welche gibt also kann ichs mir aussuchen wen ich nehme“. | |
Dann: „Zur not würde vorerst der Vorname gehen und ohne gesicht … auch wenn | |
ich eigentlich schon jetzt verletzt bin aber du brauchst Hilfe“. | |
Ich schicke das geforderte Bild. | |
Insgesamt macht er auf mich einen eher ungebildeten und naiven Eindruck. | |
Jedenfalls wirkt er nicht wie jemand, dem man sich anvertrauen will. Und er | |
scheint etwas verzweifelt zu sein. Als ich frage, was ich tun muss, um | |
schön zu werden, schreibt er: „Erstmals müsste ich noch wissen was ich | |
dafür kriege wenn ich dir helfe zudem erwarte ich wenn du wirklich hilfe | |
willst das ein sehr tiefes ziel pflicht ist. … ich erwarte Perfektion ich | |
würde ne menge zeit und Arbeit in dich inverstieren … mit sport und | |
Ernährungsplänen.. täglicher Motivation … immer erreichbar … challanges … | |
usw“. | |
Ich frage ihn, was er dafür haben möchte. Er antwortet: „Wie stehst du | |
einer Beziehung gegenüber mit deinem coach?“ | |
## Nur noch Haut und Knochen | |
Um sicherzugehen, dass ich ihn richtig verstanden habe, frage ich noch mal | |
nach. Er schreibt: „im Sinne von Beziehung zwischen zwei menschen, zusammen | |
sein“, antwortet er. Und dann weiter: „ich sehs halt nicht mehr ein leute | |
perfekt zu machen wenn ich nichts davon habe deswegen hab ich auch kaum | |
noch anas“. | |
Ich frage, ob ich ihm als 14-Jährige mit seinen 21 Jahren nicht zu jung | |
sei. „Du bist alt genug um dir nen Coach zu suchen oder? also warum | |
solltest du zu jung für ne Beziehung sein“. | |
Danach sendet er mir ungefragt Fotos von Körpern, die seinem | |
Schönheitsideal entsprechen. Die Körper auf den Fotos sind nicht mager oder | |
dürr, sie sind skelettartig. Nur noch Haut und Knochen, die Rippen einzeln | |
zählbar, die Kniescheiben deutlich hervortretend, die Beckenknochen stehen | |
heraus. | |
„soweit runter wie die am Bild würde ich tatsächlich nur meine freundin | |
treiben … normale anas nicht … ich will ja schließlich was besonderes“, | |
schreibt er. Auf meine Frage, wie so eine Beziehung denn ablaufen könnte, | |
antwortet er, man könne sich ja gegenseitig besuchen. | |
## Sie fordern Bilder | |
Er fragt mich noch mal nach meinem Gewicht. 61,8 Kilo, behaupte ich. | |
„normalerweise nehm ich so fette anas garnicht auf … eigentlich bis max | |
50kg aber wenn du es ernst meinst mit Beziehung dann drück ich ein auge zu | |
sobald du fettes ding unter 60kg bist“, schreibt er. Als ich ihm antworte, | |
dass ich es alleine nicht schaffen würde, die 2 Kilo abzunehmen: „sag mal | |
ist dir das nicht peinlich!? zeig mir mal bitte deinen ganzen körper nicht | |
nur deinen bauch … muss das echt noch einschätzen.. am besten in | |
Unterwäsche (und nein ich bin kein perverser) muss halt gucken was weg muss | |
… man hat ja nicht jeden tag sowas fettes vor sich“. | |
Nach einigem Hin und Her schicke ich ihm Bilder aus dem Internet. Die sind | |
ihm anscheinend nicht freizügig genug. Er beendet den Kontakt. | |
Auch die anderen Coaches, mit denen ich in Kontakt stehe, fordern Bilder | |
oder Videos in Unterwäsche, bevor sie mit dem Training beginnen wollten. | |
„Um sich für ein Coaching zu bewerben und mir zu zeigen, dass du verstehst, | |
was ich von dir erwarte, besteht deine erste Aufgabe darin, mir ein | |
Bodycheck-Video zu machen. Platziere dein Telefon zum Aufnehmen, zeige mir, | |
wie du deine Kleidung ausziehst (außer deine Unterwäsche), und drehe dich | |
langsam. Danach werde ich über Kalorienlimit und Bewegung entscheiden“, | |
schreibt mir einer der Männer auf Englisch bei Kik. | |
Er fügt hinzu: „Wir vereinbaren, dass du dich auf eine bestimmte Menge an | |
Kalorien beschränkst und dass du ein Minimum an Sportübungen machst. Wenn | |
du bei einem der Punkte versagst, werden Strafen verhängt. Dies kann eine | |
Reduzierung der Kalorien sein, mehr Videos, um deinen Körper zu beurteilen | |
oder zu beschämen [to judge or shame], zusätzliche Work-outs, demütigende | |
Aufgaben, alles, was dich fokussiert bleiben lässt. Ich werde dich führen | |
und versuchen, dich zum Erfolg zu bringen.“ | |
## Cyber-Grooming | |
Ein anderer englischsprachiger Coach verlangt: „Stell dein Telefon | |
irgendwohin und zeichne dich auf. Zieh deine Hose aus und dein T-Shirt. | |
Zeig mir jedes Stück Fett. Und dann sag in die Kamera, dass du alles tun | |
wirst, um schön auszusehen.“ | |
Ich frage mich, was das für Männer sind, die eine vermeintlich 14-Jährige | |
um Nacktfotos und eine sexuelle Beziehung bitten oder kontrollieren wollen. | |
Dazu wende ich mich an die österreichische [3][Initiative | |
Saferinternet.at], um mehr über diese „Coaches“ zu erfahren. | |
Saferinternet.at ist Teil eines europäischen Präventionsprogramms und | |
schult Jugendliche, Eltern und Lehrende im Umgang mit dem Internet. Barbara | |
Buchegger, Mitarbeiterin der Initiative, spricht mit mir über meine | |
Erfahrungen mit den Männern. Dabei berichte ich auch von der Frage nach | |
einer „Beziehung“. | |
„Das geht dann schon in die Richtung Cyber-Grooming“, erklärt sie, dass | |
also Minderjährigen im Netz angeschrieben werden mit dem Ziel, sie sexuell | |
zu belästigen oder zu missbrauchen. | |
„Es treten ständig Erwachsene im Netz mit Jugendlichen in Kontakt, und die | |
finden das toll, ja. Die denken dann: Da ist jemand, und der sagt mir: ‚Oh, | |
du bist aber schön.‘ Oder: ‚Du bist aber toll und interessant.‘ “ Die | |
Jugendlichen wüssten oft, dass diese Personen viel zu alt für sie sind. Das | |
mache es umso interessanter. „Ich vermute, dass viele dieser Coaches einen | |
Willen nach Macht über jemand anderen haben, das ist der eine Punkt. Der | |
andere ist, dass solche Nacktfotos, besonders von jungen Jugendlichen und | |
Kindern, im Internet einfach viel Geld einbringen. Da gibt es im Darknet | |
einen Markt, dort wollen die Männer die Bilder dann verkaufen.“ | |
Aber gibt es keine Möglichkeit, diesen „Coaches“ das Handwerk zu legen? | |
## Immer neue Seiten | |
Sarah Herrmann ist Fachreferentin im Bereich sexuelle Ausbeutung, | |
Pornografie und Selbstgefährdung bei jugendschutz.net und überprüft | |
schwerpunktmäßig Onlineangebote zum Thema Essstörungen. jugendschutz.net | |
ist das gemeinsame Kompetenzzentrum von Bund und Ländern für den | |
Jugendschutz im Internet. | |
Herrmann kennt das Problem der Ana-Gruppen und „Coaches“. „Es gibt seit | |
Jahren immer neuen Content, immer neue Seiten“, sagt sie. „Es werden | |
ständig Inhalte gelöscht, aber bis eine Seite, auf der zum Beispiel | |
Kontaktanzeigen für Coaching oder Gruppen verbreitet werden, vom Betreiber | |
überprüft und schließlich gelöscht ist, dauert es. Und dann gibt es schon | |
neue.“ | |
Sie sagt auch: „Die Suche nach einem ‚privaten‘ Austausch in Gruppen auf | |
Social Media oder in Messengerdiensten wie Whatsapp ist in den letzten | |
Jahren – innerhalb der Bewegung – kontinuierlich gestiegen.“ Für eine | |
Kontaktaufnahme würden meist veraltete Pro-Ana-Blogs genutzt. In der | |
Kommentarfunktion dieser Blogs würden die neuen Anbieter dann Werbung für | |
ihre Hungergruppen oder Coachingangebote posten. Die Kontaktanzeigen seien | |
teils tagesaktuell. | |
Ein Großteil der Plattformbetreiber würde derartige Anzeigen nach einer | |
Meldung jedoch wieder entfernen. Außerdem gebe es Möglichkeiten, die dazu | |
führten, dass die entsprechenden Blogseiten bei Google nicht mehr in der | |
Trefferliste angezeigt werden. Diese Maßnahmen seien zwar erfolgreich, | |
jedoch steige die Anzahl der Hungergruppen weiter. „Hierauf deutet | |
zumindest die anhaltend leichte Auffindbarkeit von immer neuen Anzeigen | |
hin“, sagt Herrmann. | |
Je länger ich in der Ana-Community bin, desto mehr Sorgen mache ich mir um | |
ihre Mitglieder. Alle vier Coaches, mit denen ich mir hin und her | |
geschrieben habe, waren erwachsene Männer, die von sich behaupteten, | |
erfahren zu sein. Keiner von ihnen wollte mir weitere Informationen über | |
Ernährung und Bewegung geben, bevor ich nicht das geforderte Bildmaterial | |
geschickt hätte. Von den meisten ging großer Druck aus. | |
Der Einfluss der Whatsapp-Gruppe war subtiler: Dort ging es | |
freundschaftlich zu. Die Mädchen schickten sich innerhalb weniger Tage | |
mehrere Tausend Nachrichten. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Gruppenchat zu | |
meinem meistgenutzten Kontakt. | |
Im Verlauf meiner Recherche merkte ich, dass ich einen immer größeren Drang | |
verspürte, mich an die Gruppenregeln zu halten und den gleichen Idealen | |
nachzueifern. Es ist diese Dynamik der sozialen Interaktion, die die | |
Gruppen so gefährlich macht. Am Ende der Recherche bin ich mir sicher, dass | |
ich als Betroffene nicht selbstständig von der Community losgekommen wäre. | |
Carla Siepmann, 15, besucht die 11. Klasse am Carl-von-Ossietzky Gymnasium | |
Berlin. Sie ist Chefredakteurin der Schulzeitung Moron. Die im Text | |
beschriebenen Chatprotokolle liegen der taz am wochenende vor. | |
Christina S. Zhu arbeitet als freie Illustratorin in Berlin. | |
20 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Mediziner-ueber-Ausloeser-der-Anorexie/!5617647 | |
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirb… | |
[3] https://www.saferinternet.at/ | |
## AUTOREN | |
Carla Siepmann | |
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