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# taz.de -- Ärztin über geschlechtersensible Medizin: „Vernachlässigte Unt…
> Medizinische Behandlungen und Studien orientieren sich oft am männlichen
> Standard. Das kann für Frauen zum Problem werden.
Bild: Bei der Entwicklung von Medikamenten orientieren sich Forscher häufig an…
taz: Frau Oertelt-Prigione, ist es als Frau besser, zu einer Ärztin zu
gehen statt zu einem Arzt?
Sabine Oertelt-Prigione: Prinzipiell nicht, es gibt aber Studien, die
belegen, dass Ärztinnen sich tendenziell etwas mehr Zeit für Gespräche
nehmen oder dass die Versorgung durch Ärztinnen bei bestimmten Erkrankungen
besser zu sein scheint. Das muss man aber mit Vorsicht beleuchten, denn die
Zahl dieser Studien ist gering. Wir sollten das also nicht verallgemeinern.
Wichtig ist, dass die Person geschlechtersensibles medizinisches Wissen hat
und auf die Patient:in eingehen kann. Dabei ist es irrelevant, ob das
nun ein Arzt oder eine Ärztin ist.
Was ist eigentlich geschlechtersensible Medizin?
Eine Medizin, die die biologischen und sozialen Unterschiede zwischen
Männern und Frauen berücksichtigt. Denn sowohl Behandlungen als auch
medizinische Studien werden oft nach dem männlichen Standard durchgeführt.
Ebenfalls beeinflusst das Geschlecht oft die Geschwindigkeit und
Genauigkeit, mit der eine Diagnose gestellt wird. Das kann dazu führen,
dass bestimmte Krankheiten bei Frauen falsch behandelt oder gar nicht erst
erkannt werden.
Sie forschen zu den geschlechterspezifischen Unterschieden einer
Covid-19-Erkrankung. Was sind das für Unterschiede?
Beim Thema Geschlechterunterschiede waren unsere Studien denen, die
Kolleg:innen weltweit durchgeführt haben, sehr ähnlich. Tendenziell sind
unter den schweren Verläufen im Krankenhaus mehr Männer. Diese haben durch
Faktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Vorerkrankungen des
Herz-Kreislauf-Systems ein höheres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.
Wir haben uns darüber hinaus auch die therapeutischen Wünsche der
Patient:innen angeschaut. Weil die Ergebnisse aber noch nicht
publiziert sind, kann ich hier noch nicht viel darüber sagen, aber wir
finden beispielsweise Geschlechterunterschiede in der Inanspruchnahme von
intensivmedizinischer Behandlung. Neben diesen klinischen Unterschieden
muss man auch die Berücksichtigung von Geschlecht bei klinischen Studien
betrachten.
Inwiefern?
Das Geschlecht kann bei Studien auf zwei Wegen berücksichtigt werden:
Entweder bei der Rekrutierung der Proband:innen oder bei der Analyse der
Daten. Nur bei jeder fünften publizierten Studie wird Geschlecht als
separates Kriterium für die Rekrutierung angegeben.
Was sind die Folgen davon?
Zum Beispiel, dass Nebenwirkungen übersehen werden. Wenn gar nicht erhoben
wird, welche unterschiedlichen Nebenwirkungen es bei Männern und Frauen
geben kann, dann kann deren Relevanz und Ausmaß nicht eingeschätzt werden.
Ähnliches gilt für die unterschiedliche Wirksamkeit und die Dosierung eines
Medikaments bei Frauen und Männern. Kein Mensch würde infrage stellen, dass
ein achtjähriges Kind nicht die gleiche Dosis von etwas bekommt wie ein
18-jähriger Mann. Die Dosis für eine Frau sollte vielleicht auch eine
andere sein, aber das weiß man aber oft nicht.
Warum wurden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Medizin so lange so
wenig beachtet?
Lange dachte man, dass sich die Unterschiede des männlichen und weiblichen
Körpers auf die Geschlechtsteile beschränken. Bikini Medicine nennt man das
– zu allem, was der Bikini verdeckt, wurde geforscht, bei allem anderen
werden keine Unterschiede gemacht.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die Contergan-Tragödie hat in den 60er-Jahren bei vielen Frauen zu
Fehlbildungen der Kinder geführt. Man wusste vorher einfach nicht, dass das
Medikament, ein Schlafmittel, unerwünschte Nebenwirkungen für das Kind, das
Schwangere in sich trugen, haben könnte. Weil man fürchtete, dass sie
potenziell schwanger werden könnten, durften Frauen bis Anfang der 90er in
den USA dann überhaupt nicht mehr an klinischen Studien teilnehmen. Erst
später merkte man, dass auch das keine ideale Lösung war.
Wie sehr hängt die Umsetzung geschlechtsspezifischer Medizin von
finanziellen Ressourcen ab?
Natürlich steigert es die Kosten, wenn man eine Studie bisher an 500
Männern durchgeführt hat und nun doppelt so viele Teilnehmende braucht,
weil auch 500 Frauen dabei sind. Bei den Diskussionen um Geld geht es aber
gar nicht so sehr um Proband:innen. Stattdessen geht es um die Studien an
Zellen oder Tieren, die viel früher durchgeführt werden, um zu testen, ob
ein Mittel überhaupt sicher ist. Auch hier müsste die Anzahl erhöht werden.
Dennoch darf man sich von diesem Aspekt nicht irreführen lassen. Diese
Kosten müssen aber immer mit den viel höheren verglichen werden, die
entstehen, wenn ein Arzneimittel vom Markt genommen muss, weil potenzielle
geschlechtsspezifische Nebenwirkungen nicht untersucht wurden.
Dementsprechend zahlt sich eine Investition zu Beginn meistens langfristig
aus.
2020 waren rund zwei Drittel der Medizinstudierenden weiblich. Die
Institute werden wiederum oft von Männern geleitet. Wie hängt diese
strukturelle Ungleichheit mit der medizinischen Praxis zusammen?
Dazu gibt es eine interessante Studie aus Dänemark, die über anderthalb
Millionen Publikationen untersucht hat. Die Frage war, inwieweit die
Anwesenheit von Frauen im Forschungsteam mit der geschlechterspezifischen
Analyse zusammenhängt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so eine Analyse gab,
war tatsächlich höher, wenn Forscherinnen dabei waren. Das heißt bei Weitem
nicht, dass jede Frau geschlechtersensible Medizin berücksichtigt.
Historisch gesehen wurde das Thema aber vor allem von Frauen
vorangetrieben. Wenn wir ausschließlich männlich geprägte Führungsebenen
haben, ist es also weniger wahrscheinlich, dass geschlechterspezifische
Medizin im Fokus steht.
Kann das Problem überhaupt medizinisch gelöst werden oder braucht es nicht
auch ein gesellschaftliches Umdenken, etwa wenn von Dingen wie
„Männerschnupfen“ die Rede ist.
Bisher haben wir vor allem über das biologische Geschlecht, also über den
Punkt „Sex“ gesprochen, der zum Beispiel bei Arzneimitteln wichtig ist. Was
den Zugriff auf das Gesundheitswesen betrifft, müssen wir aber auch Aspekte
wie Kommunikationsstrukturen oder Zugriff auf Gesundheitsleistungen
berücksichtigen. Deswegen rückt das soziale Geschlecht „Gender“ immer mehr
in den Fokus. Denn sowohl Sex als auch Gender haben Einfluss auf die
medizinische Versorgung.
21 Oct 2021
## AUTOREN
Teresa Wolny
## TAGS
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Gesundheitspolitik
Ungleichheit
Medikamente
Gender
Kolumne Unisex
Lesestück Recherche und Reportage
Kirsten Kappert-Gonther
Kirsten Kappert-Gonther
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