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# taz.de -- Gendergerechte Medizin: Testosteron kann tödlich sein
> Die Immunologin Julie Sellau forscht zur Rolle von Testosteron bei einer
> Parasitenerkrankung. Damit füllt sie eine Lücke in der Medizin.
Bild: Nach der Vaterschaft sinkt der Testosteronspiegel – medizinisch gesehen…
Hamburg taz |Junge Frauen bekommen keine Herzinfarkte, Männer dafür keine
Depressionen – solche gefährlichen Vorurteile wirken teilweise bis heute.
Die sogenannte geschlechtergerechte Medizin will das ändern. Oder genauer:
Sie will untersuchen, [1][welche medizinisch relevanten Unterschiede
tatsächlich] zwischen den Geschlechtern existieren. Denn Unterschiede gibt
es – und die reichen bis in die Ebene einzelner Zellen.
Im Bereich der geschlechtergerechten Medizin forscht auch Julie Sellau. Die
Infektionsimmunologin hat mit ihrem Team vom Bernhard-Nocht-Institut für
Tropenmedizin in Hamburg herausgefunden, warum bestimmte Infektionen mit
Parasiten bei Männern schwererwiegende Folgen haben: Das Testosteron ist
schuld. Im Dezember wurde die Immunologin für diese Erkenntnis mit dem
Werner-Otto-Preis zur Förderung medizinischer Forschung ausgezeichnet.
Gegenstand ihrer Untersuchung war der Amöbenleberabszess, der durch die
Ruhramöbe ausgelöst werden kann. Hierzulande hat die Diagnose
Seltenheitswert, aber vor allem in tropischen Entwicklungsländern sieht das
anders aus: Ungefähr [2][50 Millionen Menschen erkranken pro Jahr an der
Amöbenruhr]; etwa 100.000 Menschen sterben jährlich daran. Die meisten von
ihnen sind Männer.
Den einzelligen Parasiten nimmt man zum Beispiel über dreckiges Wasser auf.
Meist schafft es die Ruhramöbe nur bis in den Darm. Wenn sie aber über die
Darmwand ins Blut gelangt, kann sie auch in die Leber eindringen. Dort
bildet der Körper Eiter um die Amöbe herum. Er versucht so, den Parasiten
abzukapseln, ein Abszess entsteht. Bis hierher eine normale Reaktion des
Körpers.
## Neue Heilungschancen
Nun kann das Immunsystem aber auch überreagieren: Es greift dann auch das
umliegende Gewebe an, der Abszess wächst und wird zum Problem. Obwohl laut
einer [3][Studie mit Daten aus Zentralvietnam] mehr Frauen mit dem
Parasiten infiziert sind, sind 76 Prozent der Kranken mit Leberabszess
erwachsene Männer.
Woran liegt das? Fände man die Ursachen, so könnte das auch die
Heilungschancen erhöhen – und das nicht nur bei der Amöbenruhr, sondern
womöglich auch bei anderen Krankheiten. Julie Sellau hat an Mäusen nach den
Ursachen für die unterschiedlichen Verläufe geforscht. Den Nagern, genauer
gesagt der Labormausart C57BL/6, auch Black Six genannt, wurden dafür
Ruhramöben in die Leber gespritzt. Für die Mäuse sind Leberabzesse und der
Parasit laut Sellau nicht gefährlich. Sie können ihn schnell wieder
abbauen.
Das Ergebnis aber war auch bei den Mäusen deutlich: „Männliche Mäuse
entwickeln im Labor größere Amöbenleberabszesse als weibliche“, erklärt
Sellau gegenüber der taz. Die Tiere waren damit geeignete Versuchsobjekte,
um den Ursachen auf den Grund zu kommen. Die Forscher*innen testeten den
Parasiten dafür auch an kastrierten Mäusemännern. Das Ergebnis: Bei ihnen
blieben die Abszesse klein. Ein recht klarer Hinweis darauf, dass männliche
Hormone, also Androgene, eine Rolle spielen.
In diese Richtung wiesen auch Erfahrungen, die es bei Transmännern in
Hormonbehandlung gab: Auch bei ihnen hat eine Infektion mit der Ruhramöbe
stärkere Folgen. Die Forscher*innen rund um Sellau testeten den
Parasiten deshalb auch an den Zellen von Transmännern, die Testosteron im
Rahmen ihrer Geschlechtsangleichung nahmen. Die Zellen reagierten stärker.
„So konnten wir isolieren, dass Testosteron verantwortlich für diese
Reaktion ist“, sagt Sellau.
## Gefährliche Botenstoffe
Für das, was dabei passiert, sind die Monozyten entscheidend. Die gehören
zu den weißen Blutkörperchen und sind die größten Zellen im menschlichen
Blut. Sie reagieren auf Bakterien, Viren und Krankheitserreger und nehmen
sie in ihrem Inneren auf – sie „fressen“ sie. Anders als die etwas
kleineren B-Zellen und T-Zellen müssen sie nicht erst lernen, was ein
Fremdkörper ist, sondern gehören zum angeborenen Immunsystem. In ihrem
Abwehrverhalten gehen sie dabei aber relativ unspezifisch vor.
Doch unter dem Einfluss von Testosteron senden sie laut Sellaus Forschung
verstärkt bestimmte Botenstoffe aus: Diese Botenstoffe können zur
Zerstörung des Lebergewebes führen. Und die Botenstoffe locken weitere
Monozyten an den Ort der Infektion, die die Leber weiter beschädigen. „Wir
haben herausgefunden, dass Monozyten durch Androgene aktiviert werden
können. Das [4][ist die Kernaussage“], fasst Sellau zusammen.
Eine ähnliche Reaktion des Immunsystems vermuten Forscher*innen auch
hinter den höheren Todeszahlen von Männern durch das Coronavirus. Deshalb
sagt Julie Sellau: „Die Thematik berührt viele Menschen.“ Daraus ließen
sich in Zukunft vielleicht neue Therapien entwickeln und die Behandlungen
können besser an die Patient*innen angepasst werden.
Übrigens hat Testosteron nicht nur negative Auswirkungen: 2020 war Sellau
an einer Studie beteiligt, die positive Effekte des Sexualhormons auf den
Grippeverlauf nachgewiesen hat: Weibliche Mäuse, die mit H1N1 infiziert
waren, konnten dabei durch die Gabe von Testosteron vor dem Tod gerettet
werden.
Eine schnelle unspezifische Immunantwort kann also auch Vorteile haben. Es
braucht noch mehr geschlechtersensible Forschung, um herauszufinden, wie
geschlechtsspezifische Hormone wirken.
15 Mar 2022
## LINKS
[1] /Geschlechtersensible-Medizin/!5750217
[2] /Warum-der-Oeko-Kollaps-droht/!5593118
[3] https://www.researchgate.net/profile/Joerg-Blessmann/publication/11186175_E…
[4] https://www.nature.com/articles/s41467-020-17260-y
## AUTOREN
Lisa Bullerdiek
## TAGS
Gender
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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