# taz.de -- Umgang mit intersexuellen Kindern: Operationen gehören verboten | |
> Sie verletzen Menschenrechte. Trotzdem werden weiter Kinder operiert, | |
> deren Genitalien nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind. | |
Bild: Kindeswohl besteht darin, das Kind so sein zu lassen, wie es ist | |
Eine neue Studie, die erstmals die Zahl geschlechtsverändernder Operationen | |
an nicht zustimmungsfähigen intergeschlechtlichen Kindern untersucht hat, | |
kommt zu dem Schluss, dass die Zahl der Eingriffe nicht wesentlich | |
zurückgegangen ist. Zwar sind seit 2005 die ärztlichen Leitlinien in | |
Deutschland überarbeitet worden, dies hat aber nur zu einer Verschiebung | |
auf leicht andere Diagnosen, nicht zu einem Rückgang der umstrittenen | |
Operationen geführt. | |
Die Anfang Dezember erschienene Studie „Zur Aktualität kosmetischer | |
Operationen ‚uneindeutiger‘ Genitalien im Kindesalter“ stellt fest, dass … | |
untersuchten Zeitraum zwischen 2005 und 2014 jedes Jahr rund 1.700 Kinder | |
zwischen null und neun Jahren operiert werden. Die Datenanalyse hat | |
gezeigt, dass dabei die Anzahl der klassischen Intersexdiagnosen gesunken, | |
aber die Zahl der Diagnosen, die zu den „Variationen der körperlichen | |
Geschlechtsmerkmale“ zu rechnen sind, erheblich gestiegen ist. | |
Zu vermuten ist, dass die Ärzte die Veränderung der Leitlinien zur | |
Behandlung von Kindern mit klassischen Intersex-Diagnosen so verarbeitet | |
haben, dass sie die Diagnosen verändert haben und die Operationen weiterhin | |
durchführen. Bis zur Überarbeitung der medizinischen Behandlungsleitlinien | |
für kosmetische Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern rieten | |
diese bei „Störungen der sexuellen Differenzierung“ zu einer operativen | |
„Korrektur“ eines „uneindeutigen“ Genitals. | |
Die Anpassung an das als (für Babys!) normal empfundene Aussehen der | |
Geschlechtsteile sollte idealerweise innerhalb der ersten sechs | |
Lebensmonate erfolgen. Dass die Kinder nicht gefragt wurden, versteht sich | |
von selbst. Viele Ärzte und Eltern sind weiterhin überzeugt, dass eine | |
„geschlechtsangleichende“ Operation das Kind vor gesellschaftlicher | |
Diskriminierung, Spott und zudringlichen Fragen bewahren wird, also dem | |
„Kindeswohl“ dient. Die invasiven und irreversiblen Eingriffe können aber | |
schwere Folgen für das geistige und körperliche Wohlergehen der Kinder | |
haben und müssen daher als Verletzung des Menschenrechts auf körperliche | |
Unversehrtheit gewertet werden. | |
Die Studie wurde vom Bundesfamilienministerium gefördert, das allerdings | |
nicht die daraus notwendigen Schlüsse ziehen will. Der Ende Oktober | |
veröffentlichte Zwischenbericht des Ministeriums zur Situation von inter- | |
und transsexuellen Menschen geht auf nur sehr wenige Forderungen der | |
Interessensvertretungen intergeschlechtlicher Menschen ein. Die Stärkung | |
nicht diskriminierender Beratung, auf die das Ministerium fokussiert, ist | |
notwendig, aber keineswegs hinreichend. Da diese Operationen | |
Menschenrechtsverletzungen darstellen, kann es nicht den Eltern überlassen | |
werden, sie durchzuführen oder nicht. | |
Damit jetzt schon Betroffene nachvollziehen können, was mit ihren Körpern | |
gemacht wurde, müssen so schnell wie möglich die Aufbewahrungsfristen für | |
die Krankenakten über die jetzigen zehn Jahre hinaus verlängert und der | |
Beginn der Verjährungsfristen auf das Erreichen der Volljährigkeit | |
festgesetzt werden. Dafür zu sorgen, dass diese menschenrechtsverletzenden | |
Eingriffe beendet werden, erfordert mehr als Beratung und das Vertrauen auf | |
die Selbstregelung der Ärzteschaft – gerade wenn man die Beweise | |
präsentiert bekommen hat, dass letztere unter anderem Label Business als | |
usual machen. | |
Ein eindeutiges Verbot von kosmetischen Genitaloperationen wäre ein | |
gesellschaftliches Signal, dass das Kindeswohl eben darin besteht, ein Kind | |
so sein zu lassen, wie es ist. | |
7 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Achtelik | |
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