# taz.de -- Intersexuelle Kinder in den USA: Abwarten, nicht operieren | |
> Nicht Junge, nicht Mädchen, also operieren? In den USA raten immer mehr | |
> Expert_innen von einer übereilten Behandlung intersexueller Kinder ab. | |
Bild: „Nehmt sie nach Hause und liebt sie... einfach so, wie sie sind“ , sa… | |
CHICAGO ap | Sie kam als Tochter eines Ehepaares im amerikanischen Chicago | |
zur Welt, erhielt den Namen Jennifer und wuchs zu einem hübschen Kind | |
heran, mit langen Augenwimpern und welligem dunklen Haar. Und mit der | |
Sehnsucht, wie alle anderen Mädchen zu sein. Doch das war sie nicht. Als | |
erstes fielen Ärzten die leicht vergrößerten Genitalien auf, und dann | |
entdeckten sie, dass sie Hoden im Unterkörper hatte und männliche | |
Chromosomen aufwies. Damit begann eine Serie von Operationen, um die Dinge | |
„zu richten“. | |
Jennifer Pagonis wurde als intersexuell geboren. Das ist ein Überbegriff | |
für mehrere ungewöhnliche körperliche Gegebenheiten, die es nicht möglich | |
machen, die Fortpflanzungsanatomie eines Kindes nach üblichen Standards als | |
männlich oder weiblich zu definieren. Die physischen Auswirkungen können | |
subtil oder auch sehr offensichtlich sein. | |
Vor einem Jahrhundert galten intersexuelle Erwachsene als Zirkussensation. | |
Im Laufe der Zeit entwickelten sich die chirurgischen Techniken zur | |
Behandlung nicht eindeutiger Genitalien. Ärzte begannen, betroffene | |
Kleinkinder zu operieren, und ermunterten Eltern dazu, ihren Nachwuchs in | |
dem Geschlecht aufzuziehen, dem es äußerlich ähnelte. Viele Familien | |
hielten das Problem geheim, aus Scham und Furcht vor Stigma. Jennifers | |
Eltern wussten nichts über Intersexualität - oder über die Risiken der | |
Operationen, darunter eine spätere Beeinträchtigung der sexuellen Funktion | |
und Befriedigung sowie psychische Probleme. | |
Heute gibt es Bestrebungen, die Art und Weise zu ändern, wie intersexuelle | |
Kinder behandelt werden. „So, wie wir in der Vergangenheit damit verfahren | |
sind, als es eine Menge Geheimhaltung gab, im Kleinkindalter operiert wurde | |
und mit möglicherweise unumkehrbaren Ergebnissen, das ist wahrscheinlich | |
nicht der beste Weg“, sagt der Arzt Earl Cheng. | |
## Intersex-Aktivist_innen raten von OPs ab | |
Cheng leitet am Ann & Robert H. Lurie-Kinderkrankenhaus in Chicago seit | |
zwei Jahren ein Programm zur Behandlung sexueller Entwicklungsstörungen. Es | |
ist eines von mehreren US-weiten Projekten, an denen Teams aus Chirurgen, | |
Hormon- und Genetikexperten, Psychologen und Ethikern beteiligt sind. Sie | |
helfen Familien, ihre Optionen zu prüfen, so die Frage, ob überhaupt | |
operiert werden soll. Intersex-Aktivisten raten davon ab und rufen zur | |
Toleranz gegenüber betroffenen Kindern auf. | |
Intersexualität wird oft mit Fragen der Geschlechtsidentität verwechselt. | |
Aber das sind zwei unterschiedliche Dinge. Geschlechtliche Orientierung | |
bezieht sich darauf, ob sich jemand als weiblich, männlich oder etwas | |
anderes identifiziert. Bei der Intersexualität ist die | |
Fortpflanzungsanatomie involviert. Manche betroffene Kinder haben typische | |
männliche oder weibliche Chromosomen, aber im Mutterleib beginnende | |
genetische Störungen, und hormonelle Probleme führen zur Bildung von | |
Genitalien, die dem gegenteiligen Geschlecht gleichen. Andere haben eine | |
Mischung aus männlich-weiblichen Chromosomen und Fortpflanzungsorganen. | |
Schätzungen über die Verbreitung von Intersexualität schwanken. Sie reichen | |
von mehr als einem Fall unter 1.000 Neugeborenen, was auch schwach | |
atypische Genitalien einschließt, bis zu einem unter 5.000 bei | |
offensichtlicheren Merkmalen. Experten zufolge gibt es keine Hinweise | |
darauf, dass die Zahl der Fälle zunimmt. Allerdings hat ein wachsendes | |
Bewusstsein mehr Familien dazu gebracht, sich an Ärzte zu wenden. | |
## Trend zu patientenorientierter Behandlung | |
Der neue Ansatz bei der Behandlung geht auf eine gemeinsame Erklärung von | |
amerikanischen und europäischen Spezialisten aus dem Jahr 2006 zurück, die | |
von übereilten Operationen abrieten und dafür warben, ältere Patienten in | |
Entscheidungen miteinzubeziehen. Im selben Jahr verabschiedete sich die | |
American Academy of Pediatrics von einem alten auf Operationen | |
konzentrierten Kurs. Insgesamt ist die Entwicklung Teil eines Trends in der | |
US-Medizin - hin zu besserer Kommunikation und stärker | |
patientenorientierter Behandlung. | |
Aber Angst und Emotionen spielen weiter häufig eine große Rolle. Nach wie | |
vor entscheiden sich manche Eltern für eine Operation, weil sie fürchten, | |
dass ihr Kind andernfalls als „Freak“ gebrandmarkt werden könnte. „Ich h… | |
damals keinen außer meiner Mutter babysitten, die Windeln meiner Tochter | |
wechseln lassen“, sagte eine Mutter in Chicago, die anonym blieben wollte, | |
der Associated Press. „Ich wollte nicht, dass andere Leute es wissen.“ Die | |
heute achtjährige Tochter kam mit jungenhaft aussehenden Genitalien zur | |
Welt. Die Eltern entschlossen sich, die Kleine operieren zu lassen. „Ich | |
glaube nach wie vor, dass wir richtig entschieden haben“, so die Mutter. | |
„Die Zeit wird es zeigen.“ | |
## Intersex-Aktivistin: „Liebt die Kinder, wie sie sind“ | |
Wie die Tochter dieser Frau hat auch Pagonis eine Klitorisvorhaut-Reduktion | |
hinter sich, außerdem eine Reihe anderer Operationen, so zur Entfernung der | |
Hoden, da Hodenhochstand zur Entwicklung von Krebs führen kann. | |
Mittlerweile meinen aber manche Ärzte, dass es reicht, betroffene Kinder | |
unter Beobachtung zu halten. Pagonis kam ohne Gebärmutter und mit einer nur | |
zum Teil entwickelten Vagina zur Welt, die Ärzte später verlängerten, damit | |
sie als Erwachsene vielleicht normalen Sexualverkehr haben könne. Aber | |
Pagonis sagt, dass sie als Teenager herausgefunden habe, dass das fast | |
unmöglich sei. | |
Sie wusste nach eigenen Angaben, dass ihr Köper „anders“ war, aber erfuhr | |
die volle Wahrheit erst später, als ein College-Dozent das Hormon-Syndrom | |
beschrieb, das ihrer Intersexualität zugrunde liegt. Sie litt unter | |
Depression und Angst, bis sie junge intersexuelle Erwachsene traf, die es | |
akzeptieren, dass sie „anders“ sind. Pagonis benutzt jetzt den Vornamen | |
„Pidgeon“, identifiziert sich nicht als weiblich oder männlich und arbeitet | |
als Künstlerin sowie Intersex-Aktivistin gegen Operationen. Ihr Rat für | |
Eltern mit betroffenen Kindern? „Nehmt sie nach Hause und liebt | |
sie...einfach so, wie sie sind.“ | |
19 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Lindsey Tanner | |
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