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# taz.de -- Gesetzesänderung bei Intersexualität: Ein X ist möglich
> Wenn das Geschlecht des Neugeborenen nicht eindeutig ist, müssen Eltern
> künftig nicht mehr entscheiden. Das geht Betroffenen nicht weit genug.
Bild: Ob blau, ob rosa, Hauptsache gesund!
BERLIN taz | Mädchen oder Junge? Die Frage ist spätestens nach der
Entbindung meist schnell geklärt. Doch bei jedem fünftausendsten in
Deutschland geborenem Kind ist das Geschlecht nicht eindeutig: das Kind ist
weder weiblich noch männlich, sondern irgendetwas dazwischen.
Wie geht man mit sogenannten Intersexuellen um, also mit Menschen, die
sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen? Bislang
existierten solche Menschen für die Behörden offiziell nicht. Das ändert
sich, wenn am Freitag das sogenannte Personenstandsgesetz erweitert wird:
Ins Geburtenregister muss nun nicht mehr eingetragen werden, ob das Baby
männlich oder weiblich ist. Wird bei einem Kind Doppelgeschlechtlichkeit
festgestellt, können die Eltern zunächst ein X ins Geburtenregister
schreiben lassen.
Rund 80.000 Hermaphroditen leben derzeit in Deutschland. Sie sind nicht zu
verwechseln mit Transsexuellen, bei denen das Geschlecht zwar eindeutig
ist, die sich aber im „falschen Körper“ fühlen.
Die Gesetzeserweiterung ist ein „Schritt in die richtige Richtung“, sagt
Andrea Budzinski, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität
und Intersexualität (dgti). Intersexuelle würden nun „endlich sichtbar“,
die Zwangszuordnung zu einem bestimmten Geschlecht aufgehoben.
## Vielfach als Babys operiert
Die meisten der Intersexuellen, die vor dem heutigen Stichtag geboren
wurden, dürften vom geänderten Gesetz jedoch nicht profitieren, denn bei
vielen wurde das Geschlecht bereits festgelegt – von Ärzten und von den
Eltern. Bislang war es üblich, aus einem intersexuellen Kind wahlweise ein
Mädchen oder einen Jungen zu machen – durch Operationen, bei denen die
„überflüssigen“ Geschlechtsmerkmale entfernt werden, oder mit
Hormonbehandlungen und Medikamenten.
Vielfach wurden die Kinder schon als Babys operiert. „Medizinisch sind
solche chirurgischen Eingriffe nicht notwendig“, sagt Budzinski. Da ginge
es einzig um „Kosmetik“ und um eine „leichtere Zuordnung“.
Der Verband Intersexueller Menschen begrüßt die Gesetzeserweiterung zwar,
sie gehe aber nicht weit genug: OPs dürften „nur mit ausdrücklicher
informierter Einwilligung der betroffenen Menschen und unter vollständig zu
dokumentierender, schriftlicher Aufklärung erfolgen“, heißt es auf der
Verbands-Homepage. Später, wenn die Kinder und Jugendlichen eine sexuelle
Identität entwickelten und sich möglicherweise einem Geschlecht zugehörig
fühlten, sollen sie selbst entscheiden, ob sie sich operieren lassen oder
nicht, fordert die dgti.
## Entschädigung gefordert
Der Verband will auch Entschädigungen für Intersex-Menschen, denen als
Babys und Kindern ein eindeutiges Geschlecht verpasst worden ist. Die
Operationen sind irreversibel, also nicht mehr rückgängig zu machen. Für
manche Betroffene sei das eine Katastrophe, sagt Budzinski: „Ein
Hormonhaushalt lässt sich nicht operieren.“ Oder, anders formuliert: Wer
als Baby oder als Kind beispielsweise zu einem Mädchen gemacht wurde, in
der Pubertät aber merkt, dass er ein Junge ist, muss trotzdem als Mädchen
leben. „Was weg ist, ist weg“, sagt Budzinski: „Diese OPs sind
Verstümmelungen.“
Intersexuelle rückten erst in den vergangenen 20 Jahren in den Fokus der
Öffentlichkeit und der Politik. Eltern mit der Diagnose „zwittriges Kind“
wurden von Ärzten häufig unter Druck gesetzt mit der Argumentation, das
Kind hätte es in der Kita und in der Schule schwer, wenn es sich nicht
eindeutig zuordnen könnte.
31 Oct 2013
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Intersexualität
Gesetzesänderung
Intersexuelle
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Justizskandal
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