# taz.de -- Transsexuelle Identität: Sandra auf der Flucht | |
> Vier Jahre Haft wegen Einbrüchen – obwohl sie transsexuell ist, kam | |
> Sandra O. in den Männerknast. Nun wird nach ihr gefahndet. | |
Bild: Der große Gleichmacher Knast? Von wegen. | |
Sandra O. passte nirgendwo hin. Sie durfte nicht zu den Frauen, sie wollte | |
nicht zu den Männern, sie musste. Sandra O. hielt es nicht aus, und deshalb | |
ist sie jetzt weg. Sandra O. ist eine Frau, die eingesperrt war. Nicht nur | |
im falschen Körper. Sondern auch im falschen Gefängnis | |
Blassgraue Wolken wehen über hohe Wände aus stahlvernieteten Betonplatten, | |
als sich Gefängnisdirektor Jörg Schäfer von seinem Schreibtisch erhebt und | |
nach der dicken Mappe greift. Er lässt sich an den achteckigen | |
Besprechungstisch nieder, schlägt die Akte auf und setzt an, zu erklären, | |
wie es so kommen konnte. Dass in der Männer-JVA in Diez, Rheinland-Pfalz, | |
ein Häftling fehlt, ein Häftling mit weiblichem Vornamen. „Der hätte bis | |
20.40 Uhr ausgehen können“, sagt er, „dann kam sie einfach nicht zurück.�… | |
Schäfer spricht konzentriert, trotzdem kommt er ab und an mit den Pronomen | |
durcheinander. Sandra O. gehört zu den Menschen, bei denen die gefühlte | |
Identität und der Körper nicht zueinander passen. Im Sommer 2012 wurde sie | |
wegen mehrere Einbrüche zu vier Jahren Haft verurteilt. | |
Zunächst saß die Transsexuelle in Koblenz in Haft. Es dauerte nicht lange, | |
bis andere Häftlinge anfingen, sie zu schikanieren. Sandra O. fühlte sich | |
bedroht. Daher verlegte man sie im Dezember nach Diez. | |
## Aus Angst keine Frauenkleider | |
Jörg Schäfer denkt einen Moment nach, sein Blick geht aus dem Fenster. Vor | |
den Gittern windet sich Stacheldraht. Er sagt, dass Sandra O. ihre Zelle, | |
gerade acht Quadratmeter, so gut wie nie verlassen hat. Sie hätte | |
Frauenkleidung tragen können. | |
Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Celle von 2003 darf Transsexuellen | |
dies nicht verwehrt bleiben: „Frauenkleider in Gefängnissen sind | |
sozialverträglich, auch bei Männern.“ Jörg Schäfer sagt: „Wir hätten i… | |
Frauenkleidung ermöglicht. Gleichwohl hätten wir ihn darauf hingewiesen, | |
dass es dann schwierig werden kann, seine Sicherheit zu gewährleisten.“ | |
Sandra O. ließ es nicht darauf ankommen. Sie streifte sich den blauen | |
Häftlingsanzug über und bat, mit Herr O. angesprochen zu werden, nicht mit | |
Frau O. „Sie hat gesagt, sie wollte das nicht“, sagt Manfred Czakert, | |
stellvertretender Abteilungsleiter im Dora-Flügel. „Um kein Aufsehen zu | |
erregen, geh ich mal von aus.“ | |
Schäfer hat Czakert dazugeholt, weil der direkt mit ihr zu tun hatte. Er | |
faltet seine Hände auf dem Tisch, vor ihm dampft eine Tasse Kaffee, die er | |
nicht anrührt. Czakert hat gemerkt, das Sandra O. gelitten hat. „Sehr“, | |
sagt er. „Sie hat ja einen Weg gesucht, als Frau anerkannt zu werden. Und | |
jetzt waren wir für sie zuständig.“ | |
## Sprüche, Pfiffe, Spott | |
Die Beamten beschreiben Sandra O. als stille Person, die keinen Ärger | |
gemacht hat. Zwar sei sie in Diez nicht systematisch belästigt worden, doch | |
Sprüche, die kamen vor, Pfiffe, Spott. „Das bleibt ja nicht aus“, sagt | |
Czakert. Jörg Schäfer wollte es Sandra O. etwas leichter machen. Also ließ | |
er sie in den offenen Vollzug verlegen, auch wenn das nach so kurzer Zeit | |
unüblich ist. | |
„Mein Ziel war, ihren Leidensdruck zu verringern.“ Mitte März zog Sandra O. | |
ins Freigängerhaus, arbeitete in der Gärtnerei, konnte die Anstalt fünf | |
Stunde pro Woche verlassen. Das ging ein paar Tage lang gut. Dann | |
verschwand Sandra O. Nun wird nach ihr gefahndet. Die Polizei hat im Mai | |
ein Foto veröffentlicht: ein rundes, weiches Gesicht, kurzes Kinn, | |
Halbglatze, halblange Haare. Sie ist 52 Jahre alt, 1,73 Meter groß, wiegt | |
90 Kilo. | |
Ihren männlichen Vornamen hat sie vor mehr als zwanzig Jahren abgestreift. | |
Aus Thomas wurde Sandra, so stand es auch in ihrem Pass. Sie fing eine | |
Hormonbehandlung an, brach sie aber wieder ab. Ihre Geschlechtsteile konnte | |
sie nicht angleichen lassen. Weil Sandra O. an einer entzündlichen | |
Krankheit leidet, war eine Operation nicht möglich. Ihr Körper blieb | |
männlich, ebenso ihr Personenstand. Daher sah die Staatsanwaltschaft | |
Koblenz keine Alternative, sie in einem Männerknast unterzubringen. | |
## Das „tatsächliche“ Geschlecht | |
„Dem tatsächlichen Geschlecht nach handelt es sich bei ihr noch um einen | |
Mann“, sagt Oberstaatsanwalt Rolf Wissen. Doch was genau ist das | |
„tatsächliche Geschlecht“? Wer hat darüber zu entscheiden? Die Grundrechte | |
gelten auch im Gefängnis, dazu gehört das Persönlichkeitsrecht. Was also | |
war mit Sandra O.? | |
Hätten die Behörden sie nicht doch in ein Frauengefängnis einweisen müssen? | |
„Das wäre unvorstellbar, unverantwortlich“, ruft Wissen ins Telefon. Viel | |
zu groß sei die Gefahr, dass es zu einem sexuellen Verhältnis oder zu einem | |
Übergriff kommt. | |
Allerdings können solche Entscheidungen auch anders ausfallen, sagt | |
Patrizia Metzer von der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und | |
Intersexualität (DGTI). „Es gibt inzwischen flexiblere Lösungen.“ Metzer | |
befasst schon lange mit diesem Thema. Es gibt keine Statistiken, wie hoch | |
der Anteil Transsexueller an den Gefangenen ist. | |
Metzer kennt mehrere Häftlinge in Berlin und Brandenburg, die trotz | |
Männerkörpers in Frauengefängnissen leben, in Einzelzellen. Ob so etwas | |
geht, hängt immer vom Einzelfall ab, verbindliche juristische Leitlinien | |
fehlen. „Es ist eine Frage der Persönlichkeit, des Gefängnispsychiaters, | |
der Haftanstaltsleitung“, sagt Metzer, „und des Betroffenen selbst, wie er | |
sich anstellt.“ | |
## Keine Familie, keine Freunde | |
Sylvia Karrenbauer hat oft überlegt, was sie tun kann, um Sandra O. zu | |
helfen. Die Anwältin hat unter anderem versucht, sie in Kontakt mit | |
Transsexuellen-Vereinen zu bringen. Doch Sandra O. blockte ab. „Der | |
Anstaltspfarrer und ich waren ihre einzigen Bezugspersonen, es gab keine | |
Familie, keine Freunde.“ | |
Die Juristin überquert den Marktplatz von Trier, steuert auf ein Café zu | |
und breitet ihre Unterlagen auf dem Tisch aus. Sie zögert vor jeder | |
Antwort, manches lässt sie offen. Als Anwältin ist sie an die | |
Schweigepflicht gebunden. Sie hatte O. ab 2010 als Pflichtverteidigerin | |
vertreten. | |
Die Bewährungszeit war noch nicht abgelaufen, als im Winter 2011 ein Anruf | |
bei der Anwältin einging. Sandra O. war wieder verhaftet worden, wieder | |
wegen Einbruchs. Diesmal stand sie in Cochem vor Gericht, angeklagt in 34 | |
Fällen, nachgewiesen werden konnten ihr sieben. | |
Sandra O. drang in Schulen und Kitas ein, hin und wieder auch in Firmen, | |
Büros und in Behörden. Meist fand sie nur ein paar Euro, mal hat sie nur | |
eine Limo getrunken, mal ein paar Kekse gegessen. „Alles relativ sinnlos“, | |
sagt die Juristin. Es ist anzunehmen, dass es Sandra O. auch darum ging, | |
einen Schlafplatz zu finden. Sie hatte keinen festen Wohnsitz. | |
## "So etwas gehört sich nicht" | |
Sylvia Karrenbauer berührte die Geschichte ihrer Mandantin. Sie spürte, wie | |
die Haftbedingungen ihr zugesetzt haben. „Es war für sie sehr belastend.“ | |
Die Juristin senkt ihren Blick, hängt kurz ihren Gedanken nach, dreht den | |
Silberring an ihrem Finger. | |
Die Situation im Gefängnis war eine Sache, eine andere die Art, wie die | |
Presse berichtete. „Sie wurde zum Objekt degradiert“, sagt Sylvia | |
Karrenbauer, zieht ihr Handy aus der Jackentasche und lässt einen | |
RTL-Beitrag laufen. Sandra O.s Foto ist zu sehen, bearbeitet mit Photoshop: | |
Die Transsexuelle mit Perücke und greller Schminke. Die Bild brachte | |
ähnliche Montagen. „Ich finde, so was gehört sich nicht.“ | |
Dass Sandra O. geflohen ist, hat Sylvia Karrenbauer Anfang Mai erfahren. | |
Nach dem Prozess in Cochem war es zum Bruch zwischen ihr und ihrer | |
Mandantin gekommen. Nun ist sie in Sorge. Wenn es schlecht läuft, begeht | |
Sandra O. nun noch weitere Einbrüche. Für die Juristin macht der Fall | |
deutlich, wie dringend es wäre, die Gesetze zu überarbeiten. „Die | |
Rechtslage ist unbefriedigend“, sagt sie. „Es muss sich etwas ändern. Auch | |
Minderheiten haben Gehör verdient.“ | |
Rund 100 Kilometer weiter nördlich steigt eine junge Frau aus ihrem Auto. | |
Vor ihr erhebt sich das Amtsgericht von Cochem an der Mosel, ein Bau mit | |
Rundbogenfenstern und Stufengiebel. Katja Thönnes vom Cochemer | |
Wochenspiegel hat über den Prozess berichtet. „Man weiß natürlich, dass da | |
eine Verhandlung stattfindet, die hier im ländlichen Raum nicht ganz so | |
alltäglich ist“, sagt sie, steigt die Treppe hinauf. Dann deutet sie in den | |
Saal, wo das Urteil gefallen ist. Parkett, an der Wand ein Mosaik: Mose | |
empfängt die Zehn Gebote. | |
## Rein äußerlich ein Mann | |
Die Journalistin erinnert sich, dass Sandra O. in der Verhandlung oft | |
gesagt hat, dass sie in ein Frauengefängnis will, dass sie über Mobbing in | |
der JVA Koblenz klagte. Doch äußerlich, sagt sie, hatte Sandra O. wenig an | |
sich, was weiblich wirkte. „Wenn man sie gesehen hat, wäre man nie drauf | |
gekommen, dass sie sich für eine Frau hält.“ | |
Die Redakteurin tritt auf die Straße, schlendert zu dem Café gegenüber und | |
kramt ihren Block hervor. Der Wochenspiegel ist ein Anzeigenblatt. In | |
Cochem, mit 5.000 Einwohnern die zweitkleinste Kreisstadt Deutschlands, war | |
der Prozess eine große Geschichte. | |
„Es gab damals viele Polizeimeldungen von Einbrüchen. Das hatte für große | |
Unruhe gesorgt“, sagt Katja Thönnes, blättert in ihren Notizen. Gleich am | |
ersten Prozesstag geriet Sandra O. mit den Journalisten aneinander. Thönnes | |
war mit ihrem Chef im Gericht, der richtete seine Kamera auf die | |
Angeklagte. Sandra O. trat nach ihnen, wollte auf sie losgehen. „Ihr | |
Auftreten war mehr als aggressiv.“ Der Wochenspiegel machte mit der | |
Geschichte auf, die Überschrift: „Ist diese Frau noch 'Herr' ihrer Sinne?“ | |
Allmählich bricht die Mittagszeit in der JVA Diez an, Gefängnisdirektor | |
Jörg Schäfer läuft einen Korridor herunter, von dem die Zellen abgehen, | |
vereinzelt schieben Beamte Wagen voller Essensportionen vor sich her. Auch | |
Schäfer hat nicht vergessen, welche Schlagzeilen das Verfahren gemacht hat. | |
"Das war hier auf den Dörfern ein Riesenbohei." | |
Als Sandra O. zu ihm kam, hat er im Gesetz nachgelesen, welche | |
Möglichkeiten es für sie geben könnte. „Mir ist nicht ganz klar geworden, | |
wie das aktuell aussieht“, sagt Schäfer, ein promovierter Jurist. Er riet | |
ihr, sich selbst schlau zu machen. Stattdessen ist sie auf und davon. „Wenn | |
Sie mich persönlich fragen“, sagt Schäfer, „mir war klar, dass der in ein… | |
Damenanstalt durchaus gut aufgehoben wäre.“ | |
26 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
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