# taz.de -- Intersexualität und die Folgen: Nicht einfach wegoperierbar | |
> Nicht nur geschlechtlich, auch rechtlich bewegen sie sich in einer | |
> Grauzone: Intersexuelle Menschen kämpfen gegen die medizinische | |
> Deutungshoheit über ihre Existenz. | |
Bild: Männlein? Weiblein? Nicht jedem Menschen kann man ein konkretes Geschlec… | |
"Frau Kromminga? Oder doch lieber Herr Kromminga?" Selten sieht man Jochen | |
Taupitz so verunsichert. Egal, wie heikel das Thema auch sein mag, | |
normalerweise weiß er, ob er mit einem Mann oder mit einer Frau diskutiert. | |
Bei "Ins A Kromminga" weiß er es nicht, und ihr (oder sein?) Hinweis, er | |
solle ihn (oder sie?) doch mit Vor- und Nachnamen anreden, hilft dem | |
ansonsten so gewandten Juristen auch nicht weiter: Das sei doch etwas | |
unhöflich. | |
Diese Episode ereignete sich bei einer Anhörung des Deutschen Ethikrats zur | |
Situation von intersexuellen Menschen. Kaum etwas könnte das Dilemma einer | |
Gesellschaft, für die die bipolare Geschlechterordnung ein ehernes | |
Deutungsmuster ist, sprechender ausleuchten. Akzeptiert wird mittlerweile | |
die gleichgeschlechtliche Liebe, und die Krankenkasse finanziert unter | |
bestimmten Bedingungen sogar die Geschlechtsumwandlung von Transsexuellen, | |
Menschen also, die sich im falschen Geschlecht geboren fühlen. Dass es aber | |
auch solche gibt, die sich nicht eindeutig als "Mann" oder "Frau" | |
positionieren wollen, sondern behaupten, irgendwo "dazwischen" zu sein, | |
löst Irritation aus. | |
Und Unbehagen, vielleicht sogar Ängste, wenn beispielsweise eine Referentin | |
plötzlich etwas aus der Rolle fällt und von ihren Gefühlen spricht, wenn | |
sie auf ihrem chirurgisch verstümmelten Mikropenis herumrutscht und sich | |
anhören muss, wie man ihren Personenstand rechtlich einholt und ordentlich | |
dokumentiert. | |
## Zwischen die "Intersex"-Stühle | |
Intersexualität, sagt Ratsmitglied Michael Wunder, der vor einem Jahr | |
anlässlich einer Veranstaltung schon einmal erlebt hat, wie schnell man | |
zwischen die "Intersex"-Stühle geraten kann, ist eine Schnittstelle, an der | |
sich idealtypisch rechtliche und ethische Problemen bündeln. | |
Wie viele Menschen in Deutschland von einer geschlechtlichen Varianz | |
betroffen sind, ist nicht bekannt und hängt davon ab, was gezählt wird: die | |
Abweichung bei der Geburt oder die spätere Ausprägung. Man geht davon aus, | |
dass bei jeder 5.000sten Geburt eine Disorder of Sex Development (DSD) | |
auftritt; Selbsthilfegruppen sprechen von 80.000 bis 120.000 Betroffenen. | |
Über deren Lebenssituation ist wenig bekannt, weil es keine | |
Langzeituntersuchungen gibt. Die Bundesregierung ist im Rahmen eines | |
UN-Übereinkommens jedoch gehalten, intersexuellen Menschen ein möglichst | |
selbstbestimmtes und diskriminierungsfreies Leben zu ermöglichen. | |
Zwangsbehandlung und Verstümmelung sind die am häufigsten gebrauchten | |
Begriffe, wenn Intersexuelle auf die medizinischen Eingriffe zu sprechen | |
kommen, denen sie oft schon in frühester Kindheit unterzogen wurden, um ihr | |
Geschlecht anzugleichen, "eindeutig" zu machen. | |
Sei es, dass ihnen Hoden oder Eierstöcke entfernt und sie einer | |
lebenslangen Hormonersatztherapie ausgesetzt wurden; sei es, dass eine als | |
zu groß eingestufte Klitoris beschnitten wurde, mit dramatischen Folgen für | |
die sexuelle Empfindungsfähigkeit. | |
Plastiken wiederum, mit denen die Vagina im Kindesalter wiederholt | |
schmerzhaft geweitet wird, machen die angeglichenen "Frauen" für den | |
heterosexuellen Geschlechtsverkehr verfügbar. Die Behandlungsrichtlinien | |
von Intersexuellen gehen auf den amerikanischen Arzt John Money zurück, der | |
1955 die frühzeitige operative Geschlechtszuweisung für unabdingbar erklärt | |
hatte. | |
## Stabile Geschlechtsidentität | |
Die körperliche Angleichung an ein Erziehungsgeschlecht - wobei Jungen | |
leichter in Mädchen zuzurichten sind als umgekehrt - ging mit strikter | |
Geheimhaltung einher. Das trug mit dazu bei, Intersexualität jahrzehntelang | |
in einer Tabuzone zu belassen. | |
Die frühzeitigen, von Medizinern und Eltern betriebenen Eingriffe können | |
erfolgreich sein in dem Sinne, dass sie zur Ausbildung einer stabilen | |
Geschlechtsidentität führen. | |
Von den "Zufriedenen" ist wenig bekannt, erst allmählich versuchen | |
Sexualwissenschaftlerinnen wie Hertha Richter-Appelt oder Katinka | |
Schweizer, die am Klinikum Hamburg-Eppendorf forschen, das Dunkelfeld zu | |
erhellen. Eine Umfrage unter 69 Betroffenen besagt, dass 72 Prozent zwar | |
zufrieden mit der frühkindlichen Geschlechtszuweisung sind, aber nur 40 | |
Prozent mit den Behandlungsergebnissen. | |
Handelt es sich um irreversible Eingriffe, sind die Folgen oft dramatisch, | |
zumal sich manchmal erst in der Pubertät herausbildet, ob etwa ein auf | |
weiblich getrimmtes Mädchen vielleicht doch eher ein Mann ist, dem die | |
Stimme bricht und ein Bart wächst. Deshalb sind Ärzte heute erheblich | |
zurückhaltender mit chirurgischen Korrekturen. | |
Der Kieler Pädiater Paul-Martin Holterhus fordert spezielle Zentren, die | |
eine präzise Diagnostik und umfassende Beratung bereithalten. Er warnt | |
allerdings auch vor der Strategie des Abwartens, denn auch die | |
Nichtbehandlung kann irreversibel sein, etwa wenn Hormone vorenthalten | |
werden oder eine "falsche" Gonade, was vorkommt, mutiert und einen Krebs | |
entwickelt. | |
Diana Hartmann ist eine sogenannte AGS-Frau, die sich nicht hat operieren | |
lassen und gegen chirurgische Anpassungen plädiert. Bei AGS bildet sich bei | |
Mädchen beziehungsweise Frauen mit ansonsten unauffälligen Keimdrüsen | |
aufgrund einer Stoffwechselstörung eine vergrößerte Klitoris aus. "Um meine | |
Intersexualität zu entdecken, muss ich aber mein Sexualorgan behalten und | |
damit umgehen lernen." | |
## xy-Frauen | |
Bianca Claßen von der AGS-Elterninitiative sieht das anders und votiert für | |
eine frühzeitige OP. "AGS-Mädchen", so ihre Erfahrung, "fühlen sich in der | |
Regel auch als Mädchen." Sie räumt aber ein, dass sie einem Geschlecht | |
zugeordnet werden können, nicht müssen. | |
Julia Marie Kriegler von der Elternvertretung der xy-Frauen schildert | |
eindrucksvoll den Schock, den es für Eltern bedeutet, wenn nach der Geburt | |
ihres Kindes gefragt wird, ob ein Junge oder ein Mädchen im Kinderwagen | |
liegt und man keine eindeutige Antwort geben kann. "Wir konnten ein solches | |
Kind einfach nicht denken", erinnert sie sich. Dann jedoch lernte sie, im | |
sozialen Umfeld offensiv mit dem Problem umzugehen. | |
Viele Eltern, die weniger sorgsame Begleitung wie die Krieglers erfahren, | |
fühlen sich betrogen, allein gelassen. "Unser Kind", sagt Kriegler, "wurde | |
dann operiert." Aber obwohl sie sich die Entscheidung nicht hätte abnehmen | |
lassen wollen, ahnt sie, "dass sich Intersexualität nicht einfach | |
wegoperieren lässt". | |
Dem halten intersexuelle Menschen entgegen, dass bei allem Verständnis für | |
die Verunsicherung und den Handlungsdruck, der auf den betroffenen Eltern | |
laste, die einmal getroffenen Entscheidungen von ihnen ausgebadet werden | |
müssten. | |
Keine der paternalistischen Schutzbehauptungen, sagt Lucie Veith, eine der | |
bekanntesten Streiterinnen an der Intersexfront, rechtfertigten die an | |
Folter grenzenden Eingriffe. | |
Den Organisierten geht es um gesellschaftliche Akzeptanz ihres So-Seins, um | |
angemessene Gesundheitsversorgung und möglicherweise um einen | |
Schadensausgleich für das erlittene Leid. Wenn Menschen ohne eigenes Zutun | |
verstümmelt würden und der Staat sie nicht geschützt habe, sagt Veith, | |
stehe ihnen eine Entschädigung zu. | |
## Oder lieber gar kein Geschlecht? | |
Den Betroffenen geht es vor allem darum, die medizinische Deutungshoheit zu | |
brechen. Der Ethikrat dagegen bedenkt die rechtlichen Folgen, die es haben | |
könnte, wenn das Geschlecht nicht mehr eindeutig bestimmbar ist. Soll ein | |
drittes oder sollen gar viele Geschlechter in den Personenstandsdokumenten | |
festgehalten werden? Oder lieber gar kein Geschlecht? Welche Folgen hat das | |
für andere Rechtsbereiche, das Versicherungs- und das Eherecht etwa? | |
Was die Juristen im Rat umtreiben mag, lässt die Betroffenen eher kalt: | |
"Die Mehrheit der Betroffenen", fasst Daniela Truffer, vom Verein | |
"Zwischengeschlecht" zusammen, "hat mit Personenstandsproblemen nichts am | |
Hut." | |
Sie kämpfen für das Ende der Genitalverstümmelung, das Recht, selbst über | |
ihre Geschlechtsidentität zu entscheiden. Wann aber dafür der geeignete | |
Zeitpunkt ist, hängt ebenso von jedem Einzelfall ab wie die Frage, wie das | |
Geschlecht heißt, dem ein Betroffener zugehören will: Es gibt eben nicht | |
die Intersexualität, weiß die erfahrene Sexualforscherin Richter-Appelt, | |
sondern viele Geschlechter. | |
22 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Baureithel | |
## TAGS | |
Intersexualität | |
Intersexualität | |
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