| # taz.de -- Umgang mit Intersexualität: Aus der Haut gefahren | |
| > In Deutschland leben mehr als zehntausend Menschen, die intersexuell | |
| > sind. Viele von ihnen werden zwangstranssexualisiert – so wie Lucie | |
| > Veith. | |
| Bild: Lucie Veith vor Bildern in ihrer Wohnung. | |
| HAMBURG taz | Lucie Veith ist eine Herrin: groß, laut, stämmig, vergebend. | |
| Ob sie je einen Orgasmus hatte – sie weiß es nicht. Sss, sssssss, schon im | |
| zweiten Satz dieses Wort, diese Offenbarung. Ist es eine Übertretung des | |
| guten Geschmacks? | |
| Von solch gutem Geschmack will Veith nichts wissen. | |
| Sie wohnt in einem kleinen Reihenhaus in einem Hamburger Vorort. Der Flur | |
| eng, die Treppe schmal, die Wände voll Bilder. Fast alle hat sie gemalt: | |
| Figuren, eingezwängt zwischen Rot wie Blut und Schwarz wie Verzweiflung, | |
| zwischen „ich bin“ und „ich sei“. Es ist das Tagebuch ihrer Beherrschun… | |
| mit dem sie ihr Häuschen überbordend belädt. | |
| „Deine Bilder haben was, ich kann es nicht entschlüsseln“, zitiert sie | |
| Betrachter. „Das nicht Entschlüsselbare ist das Tabu.“ Die dazu passenden | |
| Sätze ihrer Eltern kommen ihr stakkato über die dunkelrot geschminkten | |
| Lippen im fleischigen Gesicht: „Sprich nicht darüber!“ „Was mit dir ist, | |
| geht niemanden was an!“ So werde aus der Natürlichkeit, die jedes Kind hat, | |
| etwas Gewaltsames. „Besser nicht auffallen.“ | |
| Auf dem Schrank im Wohnzimmer steht eine Fotografie ihrer Eltern – sie | |
| sehen gütig aus. Er Handwerker, sie Hausfrau. Lucie, 1956 geboren, ist das | |
| erste von fünf Kindern. Ein wildes Mädchen, keines, das „Graswieger“ sein | |
| will – eine, die im Sitzen pinkelt. „Lucie!“, entrüsteter Elternschrei. | |
| Damals schien alles noch normal. Nur dass sie mit Lackschuhen Bäume | |
| hochkletterte. Aber ist das so schlimm? Die Antwort – klar – ja: Weil es | |
| die fünfziger, die sechziger Jahre waren. Weil es ein Dorf war – die Nazis | |
| von der Oberfläche verschwunden, die Angst noch da. | |
| ## „Ich hatte immer Tampons dabei“ | |
| Richtig komisch sei es dann geworden, als die anderen Mädchen in die | |
| Pubertät kamen, kicherten, menstruierten, dem Sportunterricht fern blieben. | |
| Blut, Binden, Bauchschmerzen. Aufregung, Augenblicke, ein Kuss. Veith tat | |
| so, als gelte das auch für sie. „Ich hatte immer Tampons dabei.“ Dabei war | |
| doch etwas anders: „Ich roch nicht so wie meine Freundinnen.“ | |
| Die Camouflage ist nichts gegen die Pathologisierung, die bald kommt. Auf | |
| jeden Fall habe sie damals nur für sich aufbegehrt. Für die große | |
| „Aufbegehrgeneration“ sei sie zu jung gewesen. Ihr Mann, fünf Jahre älter, | |
| den sie mit 21 Jahren heiratet, der sei nach Fehmarn gefahren. Jimi | |
| Hendrix, Janis Joplin, Cry, baby cry. Alles unter freiem Himmel. „Ich bin | |
| denen hinterhergehechelt.“ | |
| Als sie immer noch nicht menstruierte, als alle Freundinnen es längst | |
| taten, gibt es Untersuchungen. Ergebnis: „Man druckste herum“, eröffnete | |
| ihr, dass sie keine Kinder bekommen könne. „Ich war ein wenig traurig, aber | |
| es hat mich nicht umgehauen“, sagt sie am Tisch in ihrem Wohnzimmer. Es | |
| gibt Tee mit Kandis und den Blick auf den Garten. Klein, fünf auf dreißig | |
| Meter ist er vielleicht, blühend, opulent, wild, mit allen Farben des | |
| Grüns. Die Gärten daneben haben nur eine. | |
| ## Sie erfährt, dass sie Hoden im Körper hat | |
| Sie war 23, verheiratet, Kunststudentin in Düsseldorf, als sie Blut im | |
| Schlüpfer hat. „Vielleicht kann ich doch Kinder bekommen.“ Bei der | |
| Untersuchung erfährt sie was anderes: Dass sie xy-chromosomal ist, dass sie | |
| Hoden im Körper hat. Ihr Geschlecht: männlich. Allerdings verarbeitet ihr | |
| Körper das Testosteron anders als üblich. In der Folge entwickelte sie sich | |
| weiblich. Ein Aussehen, in dem sie gelernt hatte aufzugehen als schöne | |
| Frau. „Aber ich war nie eine Frau.“ Wieder zuhause, sagt sie zu ihrem Mann: | |
| „Sie haben mir gesagt, ich bin ein Mann.“ | |
| Die Ärzte machen ihr Angst. Ihre Gonaden seien entartet. Sie schlagen eine | |
| Entfernung vor. „Gonadektomie heißt es im Mediziner-Jargon“, sagt sie. „… | |
| ist die schöne Sprache der Täter. Aber was wirklich passierte, wird nicht | |
| schöner dadurch. Im Klartext: Man hat mich kastriert.“ | |
| Auch was hier steht, wird nicht schöner, wenn man es in schönen Sätzen | |
| verpackt. | |
| „Ich wollte leben“, sagt Veith, „deshalb ließ ich mich auf die Operation | |
| ein. Ich wusste nicht, dass man aus mir einen Eunuchen macht, als man mir | |
| sagte, meine Hoden seien entartet.“ Kommt hinzu: Der Arzt beschwor sie, mit | |
| niemandem darüber zu reden, „sonst bedeute das das soziale Aus.“ Später, | |
| viel später, hat sie den Beweis in den Händen, dass ihre Hoden gar nicht | |
| entartet waren, erzählt sie. | |
| ## „Grau von innen“ | |
| Nach der Operation fühlt sie sich „kalt an. Und grau von innen“. Langsam | |
| hört ihr Körper auf, Testosteron zu produzieren. Anstatt dies zu | |
| substituieren, verschreiben die Ärzte ihr Östrogene – Medikamente für | |
| Frauen in den Wechseljahren. Die Ärzte setzen damit einen | |
| geschlechtsverändernden Prozess in Gang. „Sie zwangstranssexualisierten | |
| mich.“ Zwangstranssexualisieren – was für ein Wort. Man kann es kaum | |
| beugen. | |
| Lucie Veith wird depressiv, nimmt zu, wird dick, immer dicker. „Ich war | |
| dreißig Jahre lang ein Teigklumpen.“ Sie stürzt sich in Arbeit. Wird | |
| Filialleiterin einer Bank, arbeitet, verdrängt, arbeitet, verdrängt, | |
| arbeitet, verdrängt, bricht zusammen, überlebt, weil sie die Kunst noch | |
| hat. Sie malt spontan, expressiv, hart. Mit Rot, mit Weiß, mit Schwarz. „Da | |
| spritzt das Blut“, sagt sie. Weiße Lilien tragen bei ihr Masken. | |
| Die Operation war 1979, der Zusammenbruch 1997. Am Ende wird es fast | |
| dreißig Jahre gedauert haben, bis Lucie Veith aus der Haut fährt, obwohl | |
| sie längst aus der Haut gefahren war. „Heute frage ich mich, was mich so | |
| lange in der Isolation gehalten hat.“ | |
| ## Erzwungene Zweigeschlechtlichkeit | |
| Im Jahr 2000 schenkt ihr Mann ihr einen Computer. „Testikuläre | |
| Feminisierung“ wird das erste Wort, das sie in der Suchmaschine eintippt. | |
| Die Seite der XY-Frauen, eines Netzwerkes von Intersexuellen, floppt auf. | |
| „Es war wie ein Schock. Schlagartig war mir klar: Was mir passierte, | |
| passiert auch anderen. Da steckt Struktur dahinter.“ Welche? „Die von der | |
| erzwungenen Zweigeschlechtlichkeit.“ Ungeduldig sagt sie es. Was sie | |
| verstanden hat, das müssen andere auch verstehen. | |
| Veith wird Mitglied bei den XY-Frauen, geht zu Selbsthilfetreffen, ist | |
| überwältigt, weil da Sprache ist, weil benannt wird, dass Dinge passieren, | |
| die falsch sind, weil Forderungen aufgestellt werden. Eine: Niemand darf | |
| zwangsoperiert werden. „Ich war wieder da. Diesmal richtig.“ Seit 2005 | |
| nimmt sie Testosteron. Sie hat es sich selbst verordnet. | |
| Heute ist Lucie Veith im Vorstand des Vereins „Intersexuelle Menschen“, der | |
| Lobbyarbeit macht, um die Verletzungen anzuprangern, die Intersexuellen | |
| zugefügt werden, nur damit die weiblich-männliche Dichotomie nicht | |
| aufgelöst werden muss. Veith spricht im Bundestag, im Ethikrat, bei | |
| Ärztekongressen. Und sie hat für die Vereinten Nationen an den kritischen | |
| Berichten mitgearbeitet, die aufzeigen, wo Deutschland die verbindlich | |
| unterzeichneten UN-Konventionen gegen Folter, gegen Diskriminierung von | |
| Frauen und Behinderten nicht einhält. Im Umgang mit Intersexualität gibt es | |
| massive Versäumnisse. | |
| ## Hormone schon bei Kindern | |
| Offiziell leben ungefähr zehntausend Intersexuelle in der Bundesrepublik. | |
| Selbst die Regierung schätzt die Zahl höher. Denn etwa 350 Kinder mit | |
| uneindeutigem Geschlecht werden jedes Jahr in Deutschland geboren. Je | |
| jünger die Kinder sind, wenn sie von ihren Eltern und von Medizinern in ein | |
| Geschlecht gepresst werden, desto größer die Schäden. „Für Kinder sind | |
| Hormone nicht zugelassen. Intersexuellen Kindern verabreicht man sie | |
| trotzdem.“ | |
| Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit werde ignoriert, sagt Veith. | |
| Wer macht sich – ein Beispiel – klar, was es für ein intersexuelles Kind | |
| bedeutet, wenn es eine „Neovagina“ bekommt, wenn es „penetrationsfähig | |
| gemacht wird“? Sie weiß es: „Die Neovagina muss bougiert werden, also | |
| geweitet.“ Wie? „Die Eltern müssen jeden Tag mit dem Finger in die Vagina | |
| gehen und ein Phantom einführen. Das Kind muss damit schlafen. Das ist | |
| Folter.“ Vielleicht sogar mehr. „Das mangelnde Mitgefühl für diese Mensch… | |
| ist mir persönlich unverständlich.“ Neovagina, Bougierung, Gonadektomie, | |
| Transsexualisierung. Es sind Worte, es ist Wirklichkeit. | |
| Was für eine Wirklichkeit? Lucie Veith zeigt auf ein Bild an der Wand. Ein | |
| roter Fleck mit drei schwarzen Figuren, die wie Zahnräder | |
| ineinandergreifen. Die dunklen Kreaturen, das ist sie selbst in ihrer | |
| Dreiheit: Wer-bin-ich. Wer-war-ich. Wer-hätte-ich-sein-können. „Wer man | |
| hätte sein können, das bewegt alle Intersexuellen, die in die medizinische | |
| Intervention geraten sind.“ | |
| 26 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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