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# taz.de -- Pubertät im ZDF: Kranke Jungs oder kranke Umwelt?
> Der ZDF-Beitrag „37 Grad“ zelebriert die sensible Umbruchsituation von
> Jungen – und verkauft das Werk als großen Wurf.
Bild: Vater zum Sohn: „Das geht mir auf den Keks, dein ’Ja, ja, ja‘.“
Die Pubertät ist schuld. Was eignet sich besser dazu, dafür verantwortlich
gemacht zu werden, dass Schulnoten rapide in den Keller gehen, Jugendliche
ihr Verhältnis zu Alkohol und Drogen austesten, Computer zum besten Freund
werden und Eltern eher in die Position von lästigen Fliegen geraten? Die
Pubertät trägt Schuld und das ist gut so.
Der „Feind“ ist außen. Sich rasant vermehrende Hormone, unzählige
Nervenbahnen, die sich neu verkabeln, sorgen dafür, dass manche Jugendliche
und mit ihnen ihre gesamte Umwelt kopfstehen. Nicht die Kinder und auch
nicht die Eltern können etwas dafür, wenn Türen knallen, Fetzen fliegen,
schwindelerregende Wortschöpfungen gebildet werden, um sich gegenseitig zu
sagen was man voneinander hält. Danke, Pubertät!
Die Pubertät ist aber nicht an allem schuld. Das konnte man gut sehen, wenn
man den ZDF-Zweiteiler der Serie „37 Grad“ mit dem rasanten Titel „Jungs
unter Strom“ verfolgte. Jungen werden begleitet. Jungen in der Schule, die
von ihrem Lehrer ermahnt werden, Jungen zu Hause, die von ihren Eltern
bestraft werden, Jungen mit ihren Freunden und einem Einkaufswagen voll
Bier, Jungen beim Praktikum im Kindergarten und im Altenheim.
Das Ganze funktionierte nach einem einfachen Strickmuster: Jungen bis zur
siebten Klasse laufen noch ganz so, wie die Eltern es sich vorstellen, ab
dann werden sie schwierig. Aber, so wird erklärt, sie sind ja gar nicht so,
sie müssen nur richtig gefördert werden und dann kommen sie auf den rechten
Weg.
## Schießen mit dem Vater
Ein Pubertäts-Coaching-Paar holt am Ende die Klischees von den fehlenden
männlichen Bezugspersonen hervor und präsentiert sich als ideales
Elternpaar, bei dem die Jungen das kriegen, was ihnen alles fehlt,
körperliche Aktion, Schießen mit dem Vater, Spaziergänge mit der Mutter.
Das Paar erklärt, was die Schulen falsch machen, dass sie keine Räume für
Jungen haben, und demonstriert der alleinerziehenden Mutter noch mal
deutlich, wo sie überall versagt und was sie niemals für ihren Sohn leisten
kann. Wie simpel ticken die Erwachsenen, die Macher solcher Filme, die
Redakteure und die selbsternannten Pubertäts-Coaches eigentlich?
Jungen, die von ihren Eltern vor laufender Kamera wegen ihrer Schulnoten
zusammengefaltet werden, denen der Vater in gereiztem Ton ihre Einträge ins
Führungsheft vorliest und dann dem Sohn, der sichtlich peinlich berührt vor
der Kamera auf seinem Stuhl herumrutscht, mit aufgeregter Stimme vorhält:
„Da sagst du immer ’ja, ja, ja‘, aber nix passiert. Das geht mir auf den
Keks, dein ’Ja, ja, ja‘.“
Was bitte soll der Junge in dieser Situation sonst sagen, wenn er erlebt,
wie seine Eltern ihn mit seinen Verletzlichkeiten der Öffentlichkeit
ausliefern? Reicht es nicht, dass manche Eltern ihre Kinder vor deren
Freunden zurechtweisen? Jungen, die erlebt haben, wie sich die Eltern
trennen, und dieses Erlebnis jetzt – zur Zeit der Dreharbeiten – wieder
durchleben und dann wiederum vor laufender Kamera dem Lebensgefährten der
Mutter, der längere Zeit zur Familie gehörte, beim Auszug helfen, dass
diese Jungen nicht mehr brav in der Schule lernen und „funktionieren“, ist
nicht Pubertät.
## „Max kämpft weiter mit Bartstoppeln"
Unempathische Eltern, unempathische Erwachsene, die – anstatt ihren
Schutzauftrag für die Jugendlichen ernst zu nehmen – die schwächsten,
unwürdigsten Momente der gerade auf dem Weg ins Erwachsenenleben sich
befindenden Jugendlichen zur Schau stellen, voyeuristisch daran teilnehmen
und jovial kommentieren: „Max kämpft weiter mit Bartstoppeln und den
Widrigkeiten des Lebens. Er muss seine Bewährungsprobe noch finden.“
Welche Bewährungsprobe? Auch Max würde im Altenheim oder im Kindergarten
von den ihnen anvertrauten geliebt werden. Die würden ihn nicht so
vorführen, sondern seine Zuwendung wertschätzen. Wenn Eltern vorgeführt
bekommen, wie ein ideales Elternpaar alles besser kann, wird ihr
bestehendes Gefühl manifestiert: unzulänglich zu sein, es nicht
hinzukriegen.
Wenn Jungen auf ihre „kranke“, unsensible, sich selbst an ihnen
bereichernde Umwelt mit Schulverweigerung, Alkohol, Drogen, null Bock und
der Flucht ins Internet reagieren, ist das eine normale Reaktion auf eine
gestörte Umwelt und hat mit Pubertät nichts zu tun.
7 Nov 2012
## AUTOREN
Elisabeth Raffauf
## TAGS
Pubertät
ZDF
ZDF
Familie
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